Die Dissoziative Identitätsstörung als Erklärungsmodell des Lebens im Universum
Bernado Kastrups Ansatz, die Umstände des Lebens im Universum mit der sogenannten Dissoziativen Identitätsstörung (DIS) zu erklären, wird inzwischen weitläufig diskutiert. Es ist eine intelligente Analogie, die für ein intellektuelles Verständnis der ontologischen Wesentlichkeit des Bewusstseins hervorragend geeignet ist. Womöglich ist diese Analogie die beste, die uns zur Verfügung steht. Gleichzeitig hat auch sie ihre Grenzen, da sich die pathologischen Bedingungen der DIS nicht auf die Bedingungen des universal-individuellen Lebens übertragen lassen.
Bewusstsein an sich ist eine primäre Konstante des Seins. Lebenwesen sind demnach Produkte des einen Bewusstseins. Sie begreifen sich jedoch als eigenständige Lebensformen mit separierter individueller Erscheinungsform. Die meisten Menschen sind von der Kenntnis des originären Selbst dissoziiert. Die Dissoziative Identitätsstörung ist eine unmittelbare Veranschaulichung dieses Prinzips: In einem Körper existieren verschiedene Persönlichkeiten, die nicht nur im Hirnscan distinkte Erscheinungsformen aufweisen, sondern auch in Bereichen wie Handschrift oder Gesichtsausdruck sehr unterschiedliche Ausdrucksformen mit sich bringen können. Diese Persönlichkeiten können voneinander wissen und miteinander kommunizieren, können gegebenenfalls aber auch in völliger Unwissenheit voneinander existieren, obwohl sie im gleichen Körper sind.
Die Existenz dieses Phänomens belegt, dass die Ego-Persönlichkeit eine willkürliche Konstruktion ist und nicht mit Bewusstsein an sich einhergeht. Es ist nicht das Gehirn, das Bewusstsein kreiert, sondern es ist Bewusstsein, das das Gehirn kreiert, das wiederum die Imagination der Persönlichkeit vermittelt. Nur wenn das Gehirn eine materielle Erscheinung des grundlegenden immateriellen geistigen Prinzips des Bewusstseins ist, liegt es nahe, dass sich verschiedene dissoziierte Persönlichkeiten in einem Menschen nach Bewusstwerdung ihrer Koexistenz geistig reintegrieren können. DIS ist also nicht nur eine Analogie für den ontologischen Aspekt des Bewusstseins im Verhältnis zum Individuum, sondern auch dessen ziemlich eindeutige Veranschaulichung.
„We may all be alters—dissociated personalities—of universal consciousness.”, so Kastrup. Wenngleich er damit richtig liegt, hat die Anwendung der DIS als Erklärungsmodell einen Schwachpunkt: Die DIS ist klassifiziert als Störung. Sie ist die Folge wiederkehrender traumatischer Erfahrungen in der frühen Kindheit. Die Untragbarkeit des Leids für das Kind bringt neue Identitäten als Container des Leids hervor, die sich zum Selbstschutz vor Überwältigung durch das Leid dissoziieren, ganz nach dem Motto: „Geteiltes Leid ist halbes Leid“. Die separierte Erscheinung und Selbstwahrnehmung der unzähligen Lebensformen auf dem Planeten hingegen sind nicht Folge einer traumatischen Einwirkung. Im Gegenteil sind sie das Produkt eines positiven kreativen Schöpfungsprozesses. Die körperlich-psychische Individualisierung ist notwendig, damit vom Bewusstsein konkrete Erlebnisse erfahren werden können. Erst die dissoziierte Daseinsweise als Individuum schafft die Distinktion zwischen Ich und Anderem und damit eine von Endlichkeit umrahmte spezielle Erfahrbarkeit spezifischen Lebens.
Da die DIS eine Folge schwerer Traumatisierung ist, müssen die ausgebildeten Identitäten nicht in jedem Fall volle Persönlichkeiten sein. Es ist möglich, dass abgespaltene Anteile lediglich als Persönlichkeitsfragment vorhanden sind. Das Universum gebiert hingegen keine Fragmente von Lebewesen, sondern jedes Lebewesen erscheint als vollständige Einheit. Die Einheit des Individuums ermöglicht es dem Bewusstsein bei entsprechender Integrität der Bewusstheit, sich selbst bewusst zu werden. Das Individuum mit seiner imaginierten Persönlichkeit wird idealerweise als Zwischenschritt zur transzendenten Selbsterfahrung genutzt. Die Individualisierung wäre damit ein Zwischenschritt des Erkenntnisprozesses der All-Einheit. Die Pluralisierung der DIS scheint dem entgegenzustehen, da sie desintegrale Konfusion mit sich bringt. Es ist bei Betroffenen einer ausgeprägten DIS möglich, dass stets neue unbekannte Persönlichkeiten in ihrem System auftauchen, was einer Transzendierung der Persönlichkeitsillusion besonders entgegensteht.
Es gibt allerdings einen berühmten Fall, der uns aufzeigt, warum Kastrups Analogie dennoch besonders gut ist: der des Amerikaners Billy Milligan. Milligans Körper beherbergte 23 Persönlichkeiten, die absolut unterschiedliche Verhaltensattribute aufwiesen und teilweise über Jahrzehnte nichts voneinander wussten. Sie sprachen unterschiedliche Dialekte und hatten unterschiedliche (teils sehr ausgeprägte) Begabungen und Bildungslevel sowie distinkte Lebensphilosophien. Die Kernpersönlichkeit Billy wurde nach einem Selbstmordversuch jahrelang von den anderen Persönlichkeiten stillgelegt und kam erst sieben Jahre später mit völliger Amnesie der vergangenen Jahre wieder an die Front. Im Laufe des therapeutischen Prozesses wurde allerdings noch eine 24. „Persönlichkeit“ aufgetan: „The teacher“. Es war keine separierte Persönlichkeit wie die anderen, sondern die Summe aller 23 zusammengesetzten Personen und erinnerte sich scheinbar vollständig an die Handlungen und Gedanken aller anderen Persönlichkeiten. Trotz der enormen schier unglaublichen psychischen Dissoziation existierte in Billy Milligan konstant eine Bewusstseinsdimension, die von jeglicher Fragmentation gänzlich unbetroffen war.