Kurzgeschichten

Kurzgeschichten 

 

  • Marvin hat sein Bett gemacht (Kurzgeschichte)

    Als Marvin auf die Uhr schaute, war es schon sehr früh. Er wollte doch an diesem Tag zu spät kommen. Nun muss er sich noch einmal die Schuhe ausziehen und sich erneut auf sein bereits gemachtes Bett legen. Zehn Minuten später begibt er sich auf den Weg zur Haltestelle der S-Bahn, schlendernd, Leute freundlich grüßend, ein bisschen vor sich hinträumend und die faszinierenden Klarheit des herrlich hellblauen Himmels bestaunend. Es wird knapp, er ist fast an der Haltestelle und die Bahn steht noch dort mit offenen Türen. Das Glück ist aber auf seiner Seite und er verpasst sie, als sie...
  • Kassandra und der alte Mann (Kurzgeschichte)

    Wenn Kassandra spazieren ging, hatte sie das Gefühl, die ganze Welt zu bereisen. Dabei führte ihr Weg lediglich durch den Stadtpark. Eines Sommertags, als sie auf einer Bank saß, sprach sie ein alter gräulicher Herr an: „Ist das nicht ein schöner Tag? Man könnte die ganze Welt umarmen.“ Kassandra sprach selten mit den anderen Menschen. Darum lächelte sie nur kurz ohne etwas zu entgegnen. Der Mann sprach einfach weiter: „Wenn ich die Bäume ansehe, fühle ich mich zuhause.“ Kassandra blieb still. „Wissen Sie, ich habe schon viel erlebt in den letzten siebzig Jahren. Und irgendwann habe ich gelernt, dass das...
  • Paul und die Taktyden (Kurzgeschichte)

    Paul war 20, als er sich das Bein brach. Ein falscher Schritt und eine harte Treppenkante. Im Krankenhaus traf er auf Luisa, die ihm den Gips anlegte. „Lieber ein gebrochenes Bein im Gips als ein unbehandeltes gebrochenes Herz“, sagte sie. Paul war sich nicht sicher, ob er den Satz für eine Plattitüde halten sollte, doch die Schmerzmittel gaben ihr Recht. „Hat dein Herz denn Narben?“, fragte er. „Mehr als du ahnen kannst.“ „Aber du bist doch noch jung?“ „Immerhin 25. Die meisten stammen aus meinem Kampf mit den Taktyden.“ „Bitte was?“ Paul war verdutzt. „Wer soll das denn sein?“ –...
  • Die Mauer (Kurzgeschichte)

    Als er aufwachte, spürte er die Kälte in jedem Körperteil. Noch wollte er die Augen nicht öffnen. In der eigenen Dunkelheit zu bleiben gab das Gefühl eines gewissen Schutzes. Die Außenwelt konnte so nicht vollständig eindringen. Sie blieb eine Ahnung, die im Körper gespürt wurde, aber durch die visuelle Entbehrung nicht gänzlich zu ihm vordringen konnte. „Als ich gestern einschlief, war es noch warm“, dachte er sich. „Nun hilft mir die Bettdecke reichlich wenig.“ Etwas stimmte nicht, soviel war klar. Selbst die Luft roch anders als am vorherigen Abend, muffiger, eiserner, bitterer. Immer wieder fing sein Körper an zu zittern....
  • Sebastian und das Rennen (Kurzgeschichte)

    Das Stadion ist fast vollständig mit Zuschauern ausgefüllt. Die Eintrittskarten waren teuer, die Menschen haben hohe Erwartungen. Inzwischen knien die Läufer hochkonzentriert an der Startlinie, auf die sich ihre Finger stützen. Kein Zentimeter soll verpasst werden. Ihre Augen sind starr auf die Rennbahn ausgerichtet, jede Muskel und Faser angespannt, als müssten sie um ihr Leben rennen. Weniger als eine Minute steht zwischen ihnen und dem Startsignal. Ein zu früher Start führt zur Ausscheidung, ein zu später Start – und hier gilt schon eine Sekunde als zu spät – führt zur Niederlage, zum Verlust, zum Schaden an Ruf und Lebenssituation. Trainiert...
  • Max und das Eichhörnchen (Kurzgeschichte)

    Als Max von der Arbeit kam, fragte ihn ein Eichhörnchen, wie viel Uhr es sei. Max gefiel dessen Brille aber nicht, darum nuschelte er nur, dass es Zeit sei. Das Eichhörnchen konnte sich damit nicht zufrieden geben: „Entschuldigen Sie, Mister, ich habe höflich gefragt, da kann man ja wohl auch eine angemessene Antwort erwarten.“ „Angesicht der Form Ihrer Brille ist meine Antwort eigentlich noch viel zu förmlich“, entgegnete Max mürrisch. Das Eichhörnchen war empört: „Meine Brille entspricht allen formalen Kriterien einer stilsicheren öffentlichen Erscheinung. Offenbar benötigen Sie selbst eine Sehhilfe, um diesen Umstand zu erkennen!“ Max konnte das nicht auf...