Ein Plädoyer für kollektive Heilung
Kollektiv gibt es vielleicht keinen größeren sozialen Kontext von Traumatisierung als den Kriegszustand. Auch in kriegsfreien Gefilden schwingen die unzähligen erbarmungslosen Auseinandersetzungen der Vergangenheit in den Nervensystemen nach. Ungelöste Traumata einer Nachkriegsgeneration werden unbewusst an die jeweils nächste Generation weitergegeben. Trauma ist nicht ein bestimmtes äußeres Ereignis, sondern die darauffolgende Reaktion des Nervensystems, üblicherweise in Form von Erstarrung freien Energieflusses. Wie flexibel und resilient ein Nervensystem auf äußere Ereignisse reagiert, wird dadurch geprägt, inwieweit es in den ersten Lebensjahren Stabilität durch ein reguliertes Nervensystem der Bezugspersonen erfahren hat. Wenn die ersten Lebensjahre von dysregulierten Nervensystemen der Bezugspersonen geprägt werden, ist ohne nachträgliche Transformation die Gefahr gegeben, später aktiv oder passiv an einer Etablierung gesellschaftlicher Traumatisierungsstrukturen beteiligt zu sein.
Üblicherweise übertragen wir innerlich dissoziierte Empfindungen willkürlich unbewusst auf äußere Ereignisse. Das äußere Geschehen ist so gesehen ein relativ neutrales Feld, das von einem dysregulierten Nervensystem mit Angst, Wut und Scham aus dissoziierten inneren Schichten aufgeladen wird. Diesem projektiven Prinzip entsprechend wird für unregulierte Wut-Ladung das Narrativ eines Feindbildes generiert und aufrechterhalten. Festsitzende Wut oder Angst sind Zustände eines Kindes, das nicht in all seiner bedürftigen Liebenswürdigkeit jene heile Verbindung erhalten hat, die es in früher Kindheit gebraucht hätte. Das gilt auch für Todesangst, denn Verbindungsverlust ist für junge Menschen lebensbedrohlich. Noch vor wenigen Jahrzehnten war es gängige Praxis und selbst heute wird es teilweise empfohlen, schreiende Babys alleine ausweinen zu lassen, anstatt das Baby durch direkte Körpernähe zu beruhigen. Ein junger Mensch hat keine Möglichkeit zur eigenen Regulation und ist für eine heile Entwicklung auf harmonische Beziehung angewiesen. Der Verlust der direkten Anbindung an die Bezugspersonen in einem Zustand von Bedürfnis oder Not ist eine Erfahrung von Lebensgefahr. Wenn ein Baby, das alleine ist, von selbst aufhört zu schreien, hat es einen Prozess von Bedürfnisausdruck hin zur Todesangst durchlaufen, der in Resignation geendet hat. Die Unentbehrlichkeit eines harmonisch-sicheren Beziehungskontexts wird in unserer Gesellschaft strukturell nicht adäquat gewürdigt, da in einem entfremdenden Ausmaß rationalistischer Effizienzdruck bedingungsloser Wertschätzung vorangestellt wird.
Wir sind nicht nur als Individuen beziehungstraumatisiert, sondern auch als Gesellschaft. Unsere äußere kollektive Dysregulation ist ein Abbild unserer inneren neuronalen Verzerrungen, Gefühlsaufstauungen und Dissoziationen. Trauma bedeutet, dass in einer Notsituation ein Kampf- oder Fluchtimpuls nicht möglich oder vergeblich war und die bereitgestellte Energie unreguliert im System verbleibt. Verdrängte Notempfindungen aus der Kindheit sind maßgeblich mitverantwortlich für die Welt, die wir gestalten. Sie hindern uns daran, Umstände frei von Kampf einzuschätzen, weil wir die Erscheinungen in der Welt durch den Filter alter emotionaler Ladungen interpretieren. Entwicklungstraumatisierte Systeme sind anfällig für Manipulation. Unverarbeitete Unsicherheits- und Ohnmachtserfahrungen verführen uns, vermeintlichen Autoritäten unhinterfragt zu folgen, schädliche Vorschriften unwidersprochen auszuführen und unbewusst verzweifelt nach illusionären Sicherheitsversprechen zu lechzen.
Unser Nervensystem ist derart verschaltet, dass wir nicht gleichzeitig Angst und Wut fühlen können. Dementsprechend sind uns Erzählungen über vermeintliche Bösewichte, die Schuld an unserem Leid hätten, unbewusst sehr willkommen. Dank ihnen können wir Zorn auf Sündenböcke richten, was die Menge akuten Erlebens existentieller Angstgefühle reduziert. Wenn uns kontinuierlich medial ein konkreter Grund für unsere eigentlich diffusen Angstgefühle dargeboten wird, übernimmt unsere Sinngestaltung gerne solche eindimensionalen Narrative. Schlagzeilen liefern uns täglich ein konkretes Thema als äußeren Anlass für ein inneres Empfinden, das eigentlich ein Echo längst vergangener Zeiten ist. Schreckensnachrichten werden zu einem Suchtmittel, das uns davon ablenkt, nach Innen zu schauen und trotz der Schatten negativer Überzeugungen in uns wie in unseren Mitmenschen ein herzliches Licht zu sehen.
Indem wir stets mit neuen Themen gefüttert werden, kann uns der mediale Apparat in einer Dauerschleife aus Angst und Wut halten, ohne Transformation der zugrundeliegenden Dysregulation anzuregen. Solange wir im Modus von Angst oder Wut sind, fehlt uns die Gewissheit der Verbundenheit mit allen Menschen und Geschöpfen. Statt Freude sozialer Freundlichkeit und sicherer Gemeinschaft zu erfahren, handelt unser Nervensystem im Kampf- oder Fluchtmodus. So wird unsere Kraft gemindert, uns gegen politisches Unrecht auszusprechen und Wut auf schädliches Wirken narzisstisch gestörter Machthaber zu richten. Stattdessen sind wir damit beschäftigt, Wut auf friedliebende Mitmenschen als medial generierte illusionäre Feindbilder zu projizieren – und durch willkürliche Trigger unserer frühkindlichen Todesangst in entsprechenden Ohnmachtsgefühlen zu verharren.
Durchschauen wir jedoch dieses Muster und verbinden uns nicht nur mit unseren Mitmenschen frei von Projektionen gutmütig trotz unterschiedlicher Meinungen, sondern auch liebevoll mit unseren inneren entwicklungstraumatischen Gefühlsgefilden, so dass wir sie gemeinschaftlich zu heilen vermögen, dann entsteht ein neues Feld. Dieses Feld ist nicht mehr durch Propaganda manipulierbar und spaltbar. Es ist ein Feld innerlich freier Menschen, die das Prinzip des Kriegs endgültig hinter sich lassen und in wirklicher sozialenergetischer Verbindung und Entspannung bereit sind für die Herausforderungen einer neuen Zeit.