Zum Umgang mit Annahmen (Überzeugungen und Glaubenssätze)

 

In Literatur zu Traumaheilung und Spiritualität wird wiederkehrend die Thematik von Überzeugungen aufgebracht, die auch als Glaubenssätze bezeichnet werden. Mir scheint es hilfreicher, von Annahmen zu sprechen. Alle drei Begriffe haben einen Sinn. Oft beruhen die Annahmen darauf, dass in der Kindheit etwas erlebt, also bezeugt wurde, dessen energetische Signatur sich über unser Welterleben legt. Aus der intensiven beziehungsweise regelmäßigen Erfahrung eines bestimmten Musters entsteht die Überzeugung, dass die Welt tatsächlich und permanent diesem Muster entspräche. In Wirklichkeit erleben wir die Welt allerdings auch als Erwachsene so, weil wir die Muster der Kindheit der unbewussten Überzeugung gemäß auf die Welt projizieren. Wir glauben, dass die Welt dementsprechend sei. Diese Annahmen lassen sich als spezifische Sätze formulieren. Typische Beispiele wären „Keiner hat mich wirklich lieb“ oder „Ich bin nicht gut genug“. Es sind spezifische Annahmen, die sich in einem eindeutigen sprachlichen Satz verbalisieren lassen.

Die Schwäche des Begriffs Überzeugung liegt darin, dass wir als Erwachsene metakognitiv, also auf der Ebene des reflektierenden Denkens, nicht mehr von der Annahme überzeugt sein müssen, ohne dass ihre Wirkung aufhören würde. Auch wenn wir rational erkannt haben, dass die Annahme nicht stimmt, kann sie weiterwirken, weil sie tief in das Nervensystem eingraviert ist. Insofern kann der Begriff Überzeugung irreführen. Auch wenn unser Kopf gar nicht mehr davon überzeugt ist, kann ein autonomerer Teil des Nervensystems anderer Meinung sein. Die Schwäche des Begriffs Glaubenssatz liegt in der geradezu religiös angehauchten Konnotation des Glaubens. Wir können im Kopf sogar das positive Gegenteil auf einer rationalen Ebene glauben und dennoch die negative Annahme erfahren. Das liegt daran, dass die tiefen infantilen Anteile im Nervensystem nicht nur glauben, sondern meinen zu wissen. Sie sind sich gar nicht bewusst, dass sie nur glauben, weil lediglich in der Kindheit ein Muster bezeugt wurde. Der Begriff der Annahme berücksichtigt diesen Aspekt: Unsere tiefen Beziehungsanteile nehmen ernsthaft an, dass die Welt oder andere Menschen gefährlich seien.

Der Begriff der Annahme offenbart den direktesten Weg zu einem Loslassen. Wenn wir etwas glauben, haben wir oft eine große Geschichte damit verbunden. Das muss bei Annahmen nicht mehr so sein, wenn ein entsprechender Teil der inneren Arbeit vollzogen ist. Selbst wenn wir die Glaubensgeschichte von dannen ziehen lassen, kann die tiefsitzende Annahme bestehen bleiben. Der Begriff Überzeugung klingt fast so, als wäre es gar nicht möglich, die Annahme loszulassen. Menschen, die von etwas überzeugt sind, lassen sich öfters nicht einmal vom Erleben des Gegenteils von der Überzeugung abbringen, wenn sie entsprechend ideologisch aufgeladen ist. Annahmen wiederum haben eine solche ideologische Ladung nicht. Diese sollte durch entsprechende innere Arbeit verschwinden, so dass nur noch die tiefsitzende Annahme übrigbleibt. Im Unterschied zu Überzeugungen können sich Annahmen allerdings nicht mehr halten, wenn das Gegenteil faktisch erlebt und konkret mit der Annahme abgeglichen wird. Annahmen sind etwas, das unter den richtigen Bedingungen losgelassen werden kann. Alles, was ich an mich genommen habe, kann ich auch wieder abgeben. Abgeben ist nicht etwas, das ich nur mit dem Kopf mache. Dort wird lediglich die Entscheidung dazu getroffen. Ich gebe mit dem gesamten Körper etwas ab. Es kann keine Annahme losgelassen werden, von der der Körper nie ein Gegenteil erfahren hat. Es ist unmöglich, eine Annahme zu halten, die sich im akuten Erlebnis als falsch ausweist, wenn klar wird, dass sie nicht der erlebten Realität entspricht. Die Krux liegt darin, diese Klarheit zu etablieren, da wir üblicherweise eine Spaltung zwischen empfundener Realität und faktischer Realität erleben. Wir erleben einerseits die Dimension der rationalen Einsicht und nicht zu leugnenden Fülle der Welt und andererseits die Dimension negativer Erfahrungen und Mangelerlebens, in der sich emotional lediglich zu wiederholen scheint, was in der Kindheit erlebt wurde. Der entscheidende Faktor ist also, einen direkten Energiefluss zwischen diesen beiden Dimensionen zu etablieren.

Damit haben wir die Formel für das Auflösen von Annahmen gefunden. Entscheidend ist, dass dies nicht nur ein rationaler Prozess auf der Kopfebene ist. Er muss von einer konkreten Empfindung ausgehen und auch zu dieser zurückfinden. Es treffen sich Top down- und Bottom up-Regulation. Zuerst wird aus der Empfindung heraus die Annahme versprachlicht. Die formulierte Annahme wird dann mit der akuten oder zumindest naheliegenden Wirklichkeitserfahrung abgeglichen. Auch hier muss eine echte Erfahrung beziehungsweise ein direktes Erleben vorliegen, nicht nur eine rationale Überlegung. Im Lichte dieses akut Erlebten wird die Annahme betrachtet. Es geht nicht darum, die unangenehme Empfindung damit zu verdrängen. Im Gegenteil sollte sie voll da sein dürfen, unter der Lupe der Frage: „Stimmt diese Annahme denn?“ Entscheidend ist, dass eine Verbindung zwischen dem unangenehmen Gefühl und der erlebten Wirklichkeit hergestellt wird. Das kann man sich so vorstellen, dass die Empfindungen nicht als Konkurrenz zueinander im Bewusstseinsfeld schwirren, sondern sich die Hand reichen. Sobald diese Verbindung hergestellt ist, kann die energetische Prägung des akuten Erlebens mit der irritierenden Empfindung der Annahme interagieren. Auf der Basis dieser energetischen Verbindung kann im Licht der Wahrheit die Annahme schließlich tatsächlich losgelassen werden. Ein Zeichen des vollzogenen Loslassens kann eine Empfindung von mehr Leichtigkeit sein, aber auch von einer temporären Verwirrung. Die initiale irritierende Empfindung, das unangenehme Gefühl, von dem man ausgegangen ist, sollte seine Schwere allerdings schlagartig verloren haben. Körperlich kann sich das beispielsweise in einem seufzenden Aufatmen ausdrücken. Das bedeutet nicht, dass jede Schwere sofort von dannen zieht, schließlich haben wir einerseits meistens einen ganzen Haufen an Annahmen und andererseits dissoziierte Emotionsladung, die lediglich reassoziiert werden möchten. Ich schlage jedenfalls folgenden Umgang mit Annahmen vor:

  • 1) Versprachlichung der Annahme: Dass Annahmen die Form von Glaubenssätzen haben, bedeutet nicht, dass wir diese Sätze ständig denken. Im Gegenteil sind wir uns unserer Annahmen oft gar nicht oder nur ansatzweise bewusst. Je spezifischer sie sind, desto eher ist das der Fall. Was uns zuallererst zugänglich ist, ist eine unangenehme Empfindung. Wenn eine gefühlte Irritation konstant besteht und zu symptomatischen Gedanken führt, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass sie an eine unbewusste Annahme zurückzuführen ist. Der entscheidende Schritt besteht darin, diese spezifische Irritationsempfindung zu einem Satz werden zu lassen. Die Bewegung geht vom rohen Empfinden aus zur sprachlichen Sublimierung. Es geht nicht darum, von oben einem Gefühl einen halbwegs passenden Satz aufzustempeln. Stattdessen lässt du die Irritationsempfindung als Gefühl wie einen Ballon oder eine Nebenwolke aus dem Körper in den Kopf aufsteigen. Dem Kopf erlauben wir dann, diese unbestimmte Empfindung als sprachlichen Satz zu sublimieren. Je spezifischer die Annahmen sind, desto weniger direkt kann in diesem Bottom-Up-Vorgang der entsprechende Satz entwickelt werden. Setze dich nicht unter Zeitdruck, denn der Satz muss quasi von selbst aus der Empfindung kommen. Wenn der Kopf etwas konstruiert, während er noch von der Empfindung getrennt ist, finden wir nicht die exakte Annahme, sondern nur die üblichen Gedanken. Wenn wir es zulassen, dass das Gefühlte selbst sich zu einem Satz formt, haben wir die Annahme versprachlicht. Oft sind es „Ich bin…“-Annahmen, aber auch z. B. Annahmeformen wie „Ich hasse…“ oder „Die Welt ist…“ sind möglich. Eine Annahme bei mir war beispielweise auch „Es besteht Gefahr, verprügelt zu werden.“
  • 1b) Realitätscheck Dieser Teil des Prozesses ist optional, aber für viele vermutlich hilfreich. Suche das naheliegendste Realitätsbeispiel der letzten 12 Monate, das dieser Annahme entspricht. Hier ist radikale Ehrlichkeit gefragt, denn es geht nicht darum, Geschehenes so zu deuten, wie die Annahme es sehen möchte. Wenn du diesen Fall vor Gericht führst, muss hundertprozentig gesichert sein, dass er juristisch hieb- und stichfest ist, dass eindeutig und zweifelsfrei geschehen ist, was der Annahme entspricht.
  • 2) Ansicht der Wirklichkeit: Nur wenn wir eine Wirklichkeit erfahren, die eine faktische Alternative zu einer Annahme ist, kann in ihrem Licht die Annahme losgelassen werden. Reine Überlegungen führen uns nicht weiter. Wenn das Selbst unabhängig von der Raumzeit als ewig freudiges und friedvolles Bewusstsein erfahren wird, kann bereits mit dieser Erfahrung jede Annahme abgeglichen werden. Üblicherweise ist unser Fokus mehr auf den Alltag gerichtet, so dass es sich lohnt, in der irdischen Erfahrung mehr Erfahrungsfakten zu finden. Wann habe ich das, was ich annehme, eigentlich zuletzt wirklich als faktische Bedrohung erfahren? Was habe ich hingegen im letzten Jahr erlebt, was ist faktisch passiert, das gar nicht mit der Annahme übereinstimmt? Es geht hier um konkrete Erlebnisse, die mit den daran gebundenen Empfindungen ins Bewusstsein gerufen werden.
  • 3) Energetische Verbindung von Annahme und Wirklichkeit: Aus der Empfindung des positiv erlebten Faktes stellen wir eine Verbindung zu der Annahme her. Wie fühlt sich der erlebte Fakt an? Im Raum dieses Empfindens forschen wir der Annahme nach. Welchen Sinn macht die Annahme noch in diesem Kontext? Erneut geht es nicht um ein rationales Überlegen, sondern um eine Empfindungserfahrung und energetische Assoziation. Wir müssen nicht gedanklich begründen, warum die Annahme nicht stimmt. Das würde uns sogar von der Empfindung des positiv erlebten Faktes wegbringen. Stattdessen schauen wir aus der Empfindung, der akut erlebten angenehmen Empfindung der positiven Wirklichkeitserfahrung, auf die negative Annahme. Wie könnte sich eine bestimmte Frequenz halten, wenn sie akut einer Frequenz ausgesetzt wird, die stärker ist, weil sie mehr der Wahrheit entspricht? Was fühlt sich richtig an?
  • 4) Die Auflösung der Annahme: Wenn sich eine Empfindung richtig anfühlt und eine andere falsch, wäre es verrückt, an der falschen festzuhalten. Entscheidend ist hier weniger eine kognitive Wahrheit als unsere Empfindung. Wenn die Annahme nicht stimmt, dann formuliere aktiv ihr Gegenteil aus der positiven Empfindung heraus. Ich betone erneut, dass es nicht um eine reine Gedankenformulierung geht. Wir sind lediglich von der unangenehmen Empfindung ausgehend in den Kopf gekommen, um sie zu versprachlichen und mit erlebter Wirklichkeit in Verbindung zu bringen. Nun darf das Konglomerat wieder in den Körper sinken. Aus dem Erleben heraus können wir z. B. „Ich hasse nicht die Welt.“ denken, wenn dies die Wirklichkeit ist, während wir zuerst unbewusst annahmen, wir würden sie hassen. Das „nicht“ ist hier intendiert wie ein Keil zwischen dem Subjekt und Prädikat der Annahme („Ich hasse“) und dem Objekt gesetzt („die Welt“). Die Wirklichkeit der körperlichen Empfindung ist entscheidend. Wenn du versuchen möchtest, das hier Beschriebene auf rein gedanklicher Ebene zu vollziehen, verschwendest du deine Zeit. Wenn wir auf der Ebene des Erlebens feststellen, dass die Annahme nicht stimmt, wird mit der Aufhebung ihre spezifische Irritationsempfindung aufhören. Viellicht fühlst du dich dann etwas leichter. Es kann auch sein, dass man sich erstmal verwirrter fühlt, schließlich wurde etwas losgelassen, das uns eventuell Jahrzehnte begleitet hat.

Gehen wir den Prozess an einem konkreten Beispiel durch. Du fühlst dich bedrückt, beschwert, isoliert und beklemmt. Gänzlich bleibst du bei der Empfindung, ohne etwas mit ihr zu machen. Sie darf sein, wie sie ist, ohne Zutun und ohne Weggehen. Wie auch immer sie sich im Körper gefühlsmäßig manifestiert, lässt du diesen Ballon aus Gefühlsnebel expandieren und in den Kopf aufsteigen. In der Verbindung mit dem Kopf ergibt sich die Möglichkeit der Versprachlichung. Wenn dieses Empfinden sich in einem Satz als Selbstdefinition ausdrücken müsste, wäre es, so stellst du in diesem konkreten Beispiel fest: „Ich werde schnell verlassen.“ Jetzt ist ein entscheidender Schritt bereits vollzogen, denn du hast die Annahme aus dem Nebel des Unbewussten in die Struktur und Helligkeit der Sprache gebracht. Nun erinnerst du dich an den Verlauf der letzten 12 Monate. Was ist passiert, das konkret dieser Annahme entspricht? Dir fallen zuerst nur Beispiele ein, wo du selber weggegangen bist. Dann denkst du daran, dass du ein unbequemes Gespräch mit der Chefin hattest, woraufhin du Angst hattest, gekündigt zu werden. Nun hast du das naheliegendste Realitätsexemplar der Annahme gefunden. Jetzt rufst du die Erinnerungen herbei, die sonst in diesem Zusammenhang zuletzt passiert sind. Du erinnerst dich daran, eine alte Freundin wiedergetroffen zu haben und mit ihr einen freudigen Abend verbracht zu haben. Du merkst, dass es nie dazu kam, dass du gekündigt wurdest, sondern immer noch in der Arbeitsstelle arbeitest. Selbst zwischen dir und deiner Chefin ist es nie zu einem Eklat gekommen. Nicht nur hat dich niemand verlassen, du hast viele positive Erfahrungen der Beziehungsassoziation gemacht. Erst jetzt machst du es dir klar. Damit geht eine positive Empfindung einher. Sie ist entscheidend. Unabhängig von den Überlegungen legst du den Fokus auf die Empfindung, die diese positiven Erinnerungen mit sich bringen. Wenn du innerhalb dieser positiven Empfindung auf die Annahme blickst, merkst du, dass sie nicht mit der Empfindung vereinbar ist. Du bist gewissermaßen gezwungen, entweder die Annahme aufzugeben oder die positive Empfindung, die aus dem Erinnern dieser harten Fakten aufgekommen ist. Nun kannst du eingestehen: „Ich werde nicht schnell verlassen.“ und fühlst eine direkte Erleichterung.

Je mehr eine Annahme an einem oder dem Kerntrauma unserer Kindheit angedockt ist, desto unmöglicher wird es, sie auf einmal loszulassen. Sie kann dann langsam sukzessiv verdunsten, wenn wir immer wieder das erlebte Licht der Wahrheit auf sie scheinen lassen. Was hier als mechanischer Vorgang beschrieben wurde, kann bezüglich unserer Kerntraumatisierungen als längerer Abtragungsprozess vonstattengehen. Das heißt nicht, dass eine konkrete Annahme nicht in einem konkreten Moment losgelassen werden könnte. Erlebte Wirklichkeit ist erlebte Wirklichkeit. Es kann aber sein, dass sich nicht nur eine Annahme im Unbewussten befindet, sondern ein ganzes Nest an Annahmen mit einem harten klebrigen Kern. Wenn du also festgestellt hast, dass du nicht schnell verlassen wirst, kann sich im System weiterhin eine Annahme wie „Ich bin nicht liebenswert“ oder „Ich werde nur ausgenutzt“ befinden. Zudem gibt es eine weitere Metaebene: Wir können energetisch überprüfte Annahmen ebenfalls nicht lösen, wenn eine übergeordnete (unbewusste) Annahme existiert, dass die Annahmen uns dienen. Der beschriebene Prozess muss also auch mit der Annahme, dass derartige Annahmen uns dienen, aufgehoben werden. Sie könnten uns zum Beispiel dienen, um ein bestimmtes gewohntes Realitätsbild aufrecht zu erhalten. Auch könnten Sie dazu dienen, Distanz zu anderen Menschen aufrecht zu erhalten, die uns ein vermeintliches Sicherheitsgefühl verschafft, unabhängig davon, ob wir darunter leiden. Auch die Annahme, dass man Annahmen nicht aufheben kann, muss aufgehoben werden. Wie du merkst, ist der Prozess weitaus weniger stumpfsinnig mechanisch, als es auf den ersten Blick scheinen mag. Nur wenn du bereit bist, neue Wirklichkeiten zu erschließen, in den Körper Gewahrsein fließen zu lassen, fein zu empfinden und jede Gewohnheitsanhaftung aufzugeben, kann der beschriebene Vorgang funktionieren. Es steht und fällt mit der Bewusstheit und der Bereitschaft, sich auf mehr Bewusstheit auf Kosten der alteingesessenen Realitätserfahrung einzulassen.

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