Die Misslichkeit der Meinung
„Meinen ist ein mit Bewußtsein sowohl subjektiv als objektiv unzureichendes Fürwahrhalten.“
Immanuel Kant
Ist es sinnvoll, stolz auf eine Meinung zu sein? Eher könnte man stolz sein, eine Meinung zu vertreten. Doch wie sehr sollte eine Meinung mit Inbrunst vertreten werden? Je mehr Emphase wir auf eine Meinung legen, die relativ ist, desto weniger zollen wir anderen Perspektiven Respekt. Überhaupt zollen wir der subjektiven Beschaffenheit der Welt keinen Respekt, wenn wir unsere Meinung als die einzige definitiv richtige annehmen.
Solange die eigene Meinung als relative Meinung begriffen wird, besteht kaum Gefahr einer Versteifung. Doch die eigene Meinung wird schnell zu einer globalen Richtigkeit erklärt, weil sie innerhalb des eigenen Weltbildes als die richtige Position erscheint. Die illusionäre Konstruktion des eigenen Weltbildes stabilisiert sich nicht selten über die ganze Lebenszeit und darüber hinaus gegebenenfalls über Generationen. Gerade wenn das jeweilige individuelle Weltbild schon über Jahrzehnte generiert wurde, neigt es zur Überschätzung der eigenen Position und zur Herabwertung anderer Interpretationen der Lage. Eine Meinung definitiv zu vertreten ist nur dann sinnvoll, wenn sie mit den Vorteilen anderer Weltbilder abgeglichen wurde. Hier beißt sich die Katze in den Schwanz: Je unerbittlicher jemand eine Meinung vertritt, desto weniger scheint er offen für andere Weltbilder.
Das Vertreten einer Meinung darf nicht verwechselt werden mit dem Aussprechen einer offensichtlichen Tatsache, die alle betrifft. Dass die Menschen dringend mehr Rücksicht auf den Planeten und seine restlichen Bewohner nehmen müssen, ist weniger eine Meinung als eine Tatsache. Auch das Psychedelika ein hohes therapeutisches Potential haben und deren gesetzliches Verbot absurd unverhältnismäßig ist, ist keine Meinung mehr – entsprechende Studien offenbaren diesbezüglich einen eindeutigen Sachverhalt. Man kann zwar anderer Meinung sein, widersetzt sich dann aber transsubjektiv betrachtet dem höheren Wohl des gemeinsam Seienden. Dass die Welt subjektiv beschaffen ist, bedeutet nicht, dass es nicht transindividuelle Fakten gäbe. Je kleinlicher die Meinungsstarre, desto weniger offen erscheint jemand für transindividuelle Fakten.
Der pragmatische Zweig konstruktivistischer Philosophie spricht in diesem Zusammenhang von der Notwendigkeit der Transsubjektivität, bei der es um die Transzendierung subjektiver Aussagen geht. Demnach ist eine Aussage transsubjektiv, wenn sie sich in einem idealen Diskurs als übereinstimmend qualifiziert. Für diesen Idealdiskurs gelten verschiedene Regeln. Neben Aufrichtigkeit, Zwanglosigkeit und Sachkunde ist es ausschlaggebend, dass die Kommunikation informativ und nicht persuasiv angelegt ist. Es darf also nicht darum gehen, andere zu täuschen oder zu etwas überreden zu wollen. Vor allem aber müssen die Diskursteilnehmer zur Wahrung der Unvoreingenommenheit alle Orientierungen prinzipiell in Frage stellen. Meinungen sind innerhalb des transsubjektiven Idealdiskurses nur sinnvoll, solange sie als Ausgangslage für neue Diskussionansätze fruchtbar sind und redlich aufgehoben werden können.
Unflexibel auf einer Meinung zu beharren entspricht einer narzisstischen Disposition. Narzissten ist daran gelegen, ein bestimmtes Bild aufrechtzuerhalten, über das sie Identitätswert generieren. Der Narzisst verteidigt den persönliche Weltentwurf erbarmungslos selbstbezogen und schenkt anderen Aspekten oder Belangen wenig oder keine Beachtung. Die Starrheit der Meinung ist in subjektiver Hinsicht problematisch, weil sich der starr Meinende eine subjektive Filterblase aktiv aufrechterhält, um sein persönlich-illusionäres Weltbild zu schützen. So kann er einer selbstverschuldeten Unmündigkeit nicht entgehen. Sie ist weiterhin objektiv problematisch, weil sie den gesamtgesellschaftlichen Fortschritt bezüglich transsubjektiver Fakten behindert.
Natürlich kann das Äußern einer Meinung auch einfach dazu dienen, sich Luft zu verschaffen, einem Gefühl Ausdruck zu geben oder sich für eine Sache einzusetzen und für etwas Sinnvolles einzustehen. In diesem Sinne sei jedem seine Meinung gegönnt – in der Hoffnung, dass sie mit Offenheit und Flexibilität verwaltet wird.