Ethik als subjektive Leidenschaft
In „Kant and Sade: the ideal couple“ leistet Slavoj Žižek eine Übersicht dessen, was Lacan in seinem Sade-Text womöglich vermitteln wollte. Er geht von der Frage aus, inwiefern das kantische Gesetz eine Entsprechung des Über-Ichs ist, das sadistisch die Einengung des Subjekts genießt. Lacans Interesse gelte grundsätzlich Kant (weniger Sade) und den ultimativen Konsequenzen und verleugneten Prämissen einer kantschen Ethik. Er sehe in ihr eine paradoxe Umkehr der Bedeutung des Begehrens in dem Sinne, dass Begehren nicht als durchweg pathologisch gedeutet werden könne (wie Kant es tut), denn jemandes Begehren folgen überlappt damit, der eigenen Pflicht nachzukommen. Kants Beispiel (in der Kritik der praktischen Vernunft) eines Menschen, dessen Lust unwiderstehlich ist, wenn das begehrte Objekt in der Nähe ist, und der gehängt wird, sobald er der Lust nachgeht (die Galgen unmittelbar aufgebaut), benutze Lacan, um das reguläre psychoanalytische Subjekt aufzuzeigen, das nur in Form der Bedrohung durch metaphorische Galgen erfüllende Leidenschaft erfahren kann. Das entspricht einem imaginären Entwurf, der nur dann als ausfüllend erlebt wird, wenn er durch symbolische Ordnung ergänzt wird.
Es scheint mir letztendlich weniger ausschlaggebend, dass eine radikale Bedrohung vorliegt, es ist vor allem wichtig, dass der imaginäre Entwurf nicht sich selbst überlassen ist, sondern durch ein Anderes ergänzt wird, an dem er sich abarbeitet. Die narzisstische Konstitution geschieht über den Anderen – wenn auch dies ein Galgen ist. Bedrohung ist im Anderen stet implizit, das Andere bedroht den imaginären Entwurf des Eigenen. Lacans Punkt, so Žižek, sei letztlich, dass Leidenschaft ethisch ist, wenn die Erfüllung dieser Leidenschaft die Suspension der elementarsten egoistischen Interessen impliziert. Anders gesagt: Weil das Imaginäre das Symbolische benötigt, hat es einen ethischen Aspekt. Umgekehrt hat das Ethische aber auch einen imaginär-subjektiven Aspekt. Diese ethische Leidenschaft sei der kantischen Theorie jedenfalls bereits inhärent. Wenngleich Kant auf der absoluten Spaltung zwischen pathologischen Gefühlen und der puren Form des moralischen Gesetzes insistiert, gäbe es ein Gefühl a priori, dass das Subjekt notwendigerweise erfährt, wenn es moralisch-gesetzlich geregelt wird: Den Schmerz der Demütigung seines Stolzes. Žižek dreht das kantische Postulat der Unsterblichkeit der Seele, die nach ethischer Perfektion langt, um, indem er als dessen phanstasmatische Wahrheit das Gegenteil ausgibt: Den Wunsch nach Unsterblichkeit des Körpers, die Möglichkeit, endlose Schmerzen und Erniedrigungen auszuhalten, wie er als sadesche fundamentale Phantasie (Schmerz sei höher zu werten als Lust, da er ausdauernd ist) bei Tom und Jerry gegeben ist. Lacan unterscheide in dieser zentralen Schmerzensangelegenheit zwischen dem Subjekt der Artikulation (dem aussagenden Subjekt) und des Subjekt des Artikulierten (die symbolische Identität, die das Subjekt annimmt, sowohl in der Aussage als auch „innerhalb“ – wie Žižek schreibt, man könnte auch sagen „imaginär“, denn sie beruht auf den eigenen Vorstellungen). Es läuft nun auf die Frage zu, ob Kant ein totalitärer Sadist sei und die Antwort lautet für Žižek, dass er das Gegenteil ist, da kantische Ethik ausdrücklich verbietet, eine Position des Objekt-Instruments eines Anderen Vergnügen (jouissance) zu sein. Man dürfe nicht in zwei Fallen tappen: Weder in die des satreschen-existentialen Subjekts, das vollständig verantwortlich für sich selbst sei im Sinne einer ontologischen Schuld, die bis in die finale Existenz hineinreicht, noch in die, anderen gänzlich die Schuld in die Schuhe zu schieben (im Sinne von: Ich bin das Instrument des großen Anderen, weil: „the unconscious is the discours of the Other“). Denn: Es ist nicht möglich, konkrete Normen aus einem moralischen Gesetz selbst abzuleiten, die ich in meinen spezifischen Situationen zu befolgen habe. Die individuelle Situation ist mehr als ein Schema für ein Gesetz, sie ist das Ergebnis einer singuären Dynamik heterogener Ereignisse und subjektiver Entwürfe. Darum ist Ethik eine situationsbedingte, individuelle Entscheidung. Jedenfalls habe laut Žižek die konkrete Formulierung einer determinierenden ethischen Obligation die Struktur eines ästhetischen Urteils. Pflicht darf nicht als Entschuldigung benutzt werden. Kantische Ethik verbietet, anderen Schmerzen zuzufügen mit der vollen Bewusstheit (und damit Entschuldigung), man sei nicht verantwortlich, es sei der Wille des Großen Anderen. In solchen Fällen liegt, so Žižek, die Schuld des Subjekts darin, in dem angeblich objektiv Notwendigen Vergnügen zu finden. Mit Antigone weise Lacan auf ein ideales Beispiel hin: Antigone gehorcht in ihrem unbedingten Verlangen nach einer angemessenen Beerdigung ihres Bruders nicht einer Direktive, die sie erniedrigt. Sie befindet sich nicht in einer masochistischen Position. Das Verlangen ist also nicht per se pathologisch. Der Unterschied zwischen Kant und Lacan ist also folgender, wie Žižek schließt: Für Kant gibt es keine Verbindung a priori zwischen empirischem Objekt und dem, was das Objekt für das Subjekt generiert. Für Lacan ist das Objekt a priori Grund des Begehrens, eben das, was er Objekt klein a nennt.
Žižek, Slavoj: “Kant and Sade: the ideal couple”. In: Josefina Ayerza (Hrg.): Lacanian Ink 13 1998, S. 12-25.