Warum der Wirkungseinsatz von Antidepressiva individuell ist
Es wurde viel darüber spekuliert, warum Antidepressiva in Form von Serotoninwiederaufnahmehemmern (SSRI) in den meisten Fällen erst nach 2-6 Wochen den gewünschten Effekt zeigen – wenn überhaupt. Biochemisch erhöhen SSRI den Serotoninspiegel ab der ersten Einnahme. Da viele SSRI eine lange Halbwertszeit haben, dauert es ein paar Tage, bis ein für eine Wirkung signifikanter Spiegel erreicht ist. Nach diesen initialen Tagen sollten sie aber theoretisch den antidepressiven Effekt ausspielen. In vielen Fällen dauert es stattdessen deutlich länger, bis die antidepressive Erhebung einsetzt. Ein Grund dafür, dass Depression nicht auf eine Störung der Serotoninversorgung reduziert werden kann. Nichtsdestotrotz kann die Erhöhung des Serotoninspiegels eine angenehmere Seinsgrundlage schaffen, die den Ausgang aus der Depression initialisiert.
Die in der Medizin akzeptierteste Erklärung eines verzögerten Wirkeinsatzes ist eine mechanische. Demnach muss das Gehirn infolge der SSRI-Einnahme zuerst die Rezeptorenlandschaft umgestalten, bis die antidepressive Erhebung einsetzt. Die erhöhte Konzentration von Serotonin sei nur der Ausgangspunkt. Durch die Sättigung an Serotonin reguliere das Gehirn die damit verbundenen Rezeptoren herunter. Das wiederum sorge dafür, dass die Aktivität bestimmter Hirngebiete, die für Selbstregulierung zuständig sind, im Frontallappen zunimmt und Überaktivität der Stresshormonachse abnimmt. Dies ist eine kausale Erklärung biomechanischer Zusammenhänge. Die Veränderung der Rezeptorenlandschaft infolge von regelmäßiger SSRI-Einnahme ist durchaus gegeben, aber lediglich die neurologische Seite der Medaille. Diese stur materialistisch Deutungsweise ist typisch für das mechanistische Weltbild der westlichen Medizin, das in seinem mechanischen Menschenverständnis die Relevanz des subjektiven Bewusstseins außen vorlässt.
Ich möchte einen psychophänomenologischen Erklärungsansatz vorschlagen – auf der Basis eines philosophischen Idealismus, der Materie als eine Form von Geist begreift. Es ist eine Perspektive, die den abgenutzten Begriff der Achtsamkeit für sich beanspruchen könnte. Demnach ist die Dauer, bis die antidepressive Erhebung eintritt, abhängig davon, wie sehr jemand an bestimmten Gedanken festhält beziehungsweise mit ihnen identifiziert ist. Die erhöhte Konzentration von Serotonin, die nach wenigen Tagen Einnahme vorliegt, bietet eine weicher gebettete, komfortablere Grundlage des persönlichen Seins und Handelns. Solange jemand die Bedeutungsinhalte der negativen Gedankenformationen, die vor der Einnahme das Tagesgeschehen überschattet haben, für wahr hält, wird es ihm nicht möglich sein, auch trotz weicherer Bettung durch die erhöhte Serotoninkonzentration von ihnen abzulassen. Jemand, der beispielsweise in Meditation sehr erprobt ist, wird mithilfe eines Antidepressivums leichter die negativen Gedankenmuster transzendieren, weil er gelernt hat, dass die Gedanken arbiträre Konstrukte sind, die im Bewusstseinsraum auftauchen wie Wolken vor der Sonne, und keine unmittelbar persönlichen Schöpfungen sind. Dementsprechend wird es ihm leichtfallen, diese Muster loszulassen und sich von den erhöhten Serotoninwellen an neue fruchtbare Ufer tragen zu lassen. Anders ist es, wenn jemand glaubt, die wiederkehrenden negativen Gedankenformationen wären sein persönliches Machwerk, das Wahrheit ausdrückt und ein Ausdruck der Identität ist. Wer mit Gedanken identifiziert ist und sich als deren unmittelbar persönlichen Denker versteht, wird Schwierigkeiten haben, diese Muster loszulassen. Es würde für ihn bedeuten, einen Teil seiner Identität loszulassen.
Die Einnahme psychoaktiver Substanzen kann verstanden werden als eine Zufuhr einer spezifischen Information. Wird eine Substanz regelmäßig genommen, erhält das Gehirn immer wieder die gleiche Information. Je unflexibler jemand mental ist, desto schwieriger ist es für ihn, neue Sichtweisen anzunehmen und alte Glaubens- und Denkmuster loszulassen. Viele klinische Fälle sprechen dafür, dass dies ein wesentlicher Aspekt sein mag, warum der gewünschte Wirkeinsatz von Antidepressiva unterschiedlich lange dauert. Es gibt durchaus Menschen, die nach wenigen Tagen von SSRIs aus der Depression gehoben werden. Meistens sind das Fälle, wo Depression eine endogene Ursache oder zumindest Mitursache hat. Es liegt nahe, dass jemand, dessen Depression endogenen Ursprungs ist, leichter von Gedankenmuster ablassen kann, als jemand, dessen Depression psychologischer Natur ist und an bestimmte Umstände im Lebenslauf gebunden ist. Weiterhin werden SSRI auch für Menschen mit einer Zwangsstörung eingesetzt. Depression und Zwangsstörung sind eng verwandt, da bei beiden Störungen Betroffene von wiederkehrenden selbstentwertenden negativ verzerrten Gedanken geplagt sind. Die Zwangsstörung zeichnet eine extreme Hartnäckigkeit der Gedanken mit oft erbarmungslosen Handlungsaufforderungen auf. Betroffene führen Zwangshandlungen aufgrund des fordernden Gedankens in der Hoffnung auf mentale Ruhe aus. Zwangsgedanken sind besonders dominant, weil sie sich auf Umstände der persönlichen Lebenswelt beziehen. Für die Zwangsstörung ist es nicht unüblich, dass es bis zu sechs Wochen dauern kann, bis ein SSRI seine Wirkung zeigt. Die Formel geht auf: Je intensiver sich ein individuelles Bewusstsein an in ihm auftauchende Gedankenmuster gebunden sieht, desto schwerer fällt das Loslassen. Ein anderes Beispiel sind Menschen, die ein frühes Kindheitstrauma noch nicht verarbeitet haben. Dadurch sind katastrophisierende Glaubensmuster so sehr im Identitätsverständnis verankert, dass deren Loslassen schier unmöglich scheinen mag. Teile der vermeintlichen Identität loszulassen kann nicht nur sehr desorientierend sein, sondern sich konkret schmerzhaft anfühlen. Insofern verwundert es nicht, dass auch bei älteren Leuten sechs Wochen nicht unüblich sind, bis ein Antidepressivum seine Wirkung zeigt. Es ist naheliegend, dass ältere Menschen nach vielen Jahrzehnten der Gewohnheit besonders stark mit bestimmten Denkmustern identifiziert sind.
Im Übrigen könnte so auch nachvollzogen werden, warum manche Menschen gar nicht auf Antidepressiva anspringen. Sie sind so fest mit jeweiligen Gedankenmustern identifiziert, dass sie unbewusst mit aller Kraft an ihnen festhalten, unabhängig davon, wie sehr sie darunter leiden. Das sollte nicht so verstanden werden, dass diese Menschen nicht loslassen wollen, sondern eher so, dass unbewusste Anteile nicht loslassen können. Die mechanische Herunterregelung der Serotoninrezeptoren spielt letztendlich auch eine Rolle, reicht aber alleine für die Erklärung der individuellen Dauer des Wirkeinsatzes nicht aus. Die Veränderung der Rezeptorenlandschaft ist ein Prozess, der sich über Monate zieht und dazu führt, dass über lange Zeit eingenommene hohe Dosen SSRI nicht plötzlich abgesetzt werden sollten, weil das Gehirn dann jenes neu regulierte Gleichgewicht abrupt verliert. Aber auch diesbezüglich zeigt sich eine individuelle Prägung: Einige Menschen können problemlos absetzen, anderen bereitet es große Schwierigkeiten. Die Wirkung von SSRI ist also immer eine Symbiose aus einer biochemischen Veränderung und der individuell-persönlichen Bewusstseinsausrichtung und -flexibilität und sollte nicht ausschließlich kausal verstanden werden. Leider ist die Schulmedizin in weiten Teilen noch von materialistischem Dogmatismus geprägt.
Hallo,
ich finde deinen Ansatz sehr interessant und mich würden Quellenangaben interessieren zum Thema des Wirkeinsatzes!
lg