Der Mensch und die Sprache
Die traditionelle Wahrnehmung der Sprache beschreibt sie als Kommunikationsinstrument, das der Mensch bei Bedarf nutzt, als Möglichkeit interne Verhältnisse extern konkret zu machen. Schon Platon sah die Wörter als ein Äquivalent der jeweiligen Idee, ein Abbild des Urbildes. Die meisten Menschen verstehen auch heute Sprache noch ausschließlich in diesem instrumentalen Sinne. Allerdings hat Ferdinand de Saussure Anfang des 20. Jahrhunderts eine ganz entscheidende Erkenntnis gehabt. Bedenken wir zuerst, dass Sprache ausschließlich aus Zeichen besteht. In einem Wörterbuch finden sich ausschließlich Zeichen, Zeichen werden durch andere Zeichen erklärt. Saussure hat nun erkannt, dass erstens ein Zeichen immer aus zwei Seiten besteht: Der Ebene des Bezeichnenden, also des Lautes oder geschriebenen Wortes (dem Signifikanten) und der Ebene des Bezeichneten, der Bedeutung (das Signifikat). Zweitens verhalten sich Signifikant und Signifikat arbiträr zueinander. Das heißt, dass theoretisch jede beliebige Form von Signifikant für jedes denkbare Signifikat stehen kann. Wenn die Zuordnung von Signifikant und Signifikat nun eine kulturelle und individuelle Willkürlichkeit ist, ist die traditionelle Vorstellung von Sprache nicht haltbar.
Das, was Platon als Abbild des Urbildes verstanden hat, sind lediglich Signifikanten. Ein Abbild muss Gemeinsamkeiten mit dem Urbild haben, um ein Abbild zu sein. Diese Gemeinsamkeit besteht nicht zwischen Signifikant und Signifikat. Folglich muss ein geäußerter Signifikant stattdessen immer an das vermeintliche „Urbild“ als Signifikat gekoppelt sein. Da das Urbild aber nur über den Signifikanten geäußert werden kann und der Signifikant für sich bedeutungslos ist, kann es keine objektiv-stabile Kopplung geben. Das heißt, dass Bedeutung gewissermaßen nicht kommunizierbar, sondern ein subjektiver Akt ist. Im Wörterbuch gibt es keine Bedeutung. Kommunizierbar sind nur die Signifikanten, die auf kulturell-intersubjektiv überlieferter Förmlichkeit beruhen und subjektive Bedeutung evozieren. Während sich Subjekt A dem Signifikanten „Tisch“ die Vorstellung eines grünen quadratischen Tisches zuordnet, stellt sich Subjekt B vielleicht einen gelben runden Tisch vor. Natürlich könnte Subjekt A sagen, dass es sich einen „grünen quadratischen Tisch“ vorstellt. Dann hat es aber nur einen Signifikanten mit weiteren Signifikanten spezifiziert. Die exakte Vorstellung, der imaginäre subjektive Gehalt, ist nicht vollständig in die Außenwelt transportierbar. Es gibt keine Endgültigkeit der Bedeutung, wenn das Signifikat nur durch die verschiebende Aneinanderreihung von Signifikanten seinen Weg nach außen findet. Abgesehen von rein technischer Sprachanwendung bleibt immer ein Restmangel in der Bedeutungskommunikation übrig. Sprache ist insofern auch ein ideologisch-projektives Phänomen, als dass sie beansprucht, dem inneren Entwurf eine externe Totalität zukommen zu lassen, was unmöglich ist. Wie Ovids Narziss sich im Spiegelbild des Wassers nicht greifen kann, bleibt immer eine unüberwindbare Trennung zwischen Signifikat und Signifikant. Das Signifikat steht in einem unerfüllbaren Begehrensverhältnis zum Signifikanten. Es möchte ihn für sich festhalten und gleitet doch stets hinfort. Sprache ist also kein vollkommenes Instrument als Bindeglied zwischen Innen- und Außenwelt, sondern ist als eine Mischung aus externer intersubjektiver Konvention und innerer Bedeutungszuweisung immer ein Kompromiss zwischen der kulturellen Symbolordnung und der imaginären Ordnung des jeweiligen Subjekts. Die Wortbildung als Bildung der Signifikanten ist nur die halbe Miete der Sprache, die andere Hälfte ist eben die Vorstellung selbst. Das Signifikat ist ausschließlich der Einbilungskraft inhärent, die wiederum von Signifikanten beeinflusst wird. „Die Grenzen meiner Sprache bedeuten [!] die Grenzen meiner Welt“, schreibt Wittgenstein. Damit meint er natürlich nicht die innere emotionale Welt (wenngleich diese auf Signifikanten sehr sensibel reagiert), sondern jegliches Orientierungs- und Kategorierungsbemühen, das über rein emotionale Besetzung hinausgeht. Objektivation ist ein sprachlicher Prozess. Der Vollständigkeit halber sei betont, dass zur Vorstellung nicht nur die schöpferische Phantasie gehört, sondern auch sinnliche Wahrnehmung. Der zu einer internen Information verarbeitete äußerliche Reiz wird durch den Filter der Sinnesorgane und unbewussten Informationsverarbeitung dem Bewusstsein vorgestellt und sprachlich kategorisiert. Aber auch phantasierte Vorstellungen sind Mutationen vorausgegangener Sinneseindrücke.
Die Strukturen der Sprache machen den Menschen mehr aus, als er sich bewusst ist. Wenn Sprache unmittelbar mit der Vorstellungsebene zusammenhängt, reicht sie auch bis ins Unbewusste. Das wird anhand sprachlicher Fehlleistungen (aus Sicht des Bewusstseins) deutlich, die nicht durch Aphasien verursacht werden, sondern durch eine unbewusste Dringlichkeit. Der sogenannte freudsche Versprecher verdeutlicht am ehesten, dass Sprache nicht nur ein Instrument des Bewusstseins sein kann. Die Signifikanten sind in solchen Fällen nicht bewusst gewählt. Vielmehr spricht die Sprache aus dem Menschen ohne bewussten Einfluss. Signifikanten sind in den wenigsten Fällen bewusst gewählt, sonst könnte der Mensch gar nicht flüssig sprechen. Aber die Sprache reicht nicht nur bis ins Unbewusste. Das Unbewusste selbst hat sprachliche Strukturen. Wir dürfen hier Sprache nicht mehr als Kommunikationsintrument denken, sondern als komplexes dynamisches Zusammenspiel von Signifikant und Signifikat. Wenn jemand beispielsweise eine Angst vor Hunden generalisiert hat, weil er von einem Hund gebissen wurde, so ist dem Schmerzerlebnis als Signifikat der Signifikant Hund zugewiesen worden. Wenn dieser Mensch eine Angst vor Mündern hat, ohne sich darüber im Klaren zu sein, woher sie stammt, so hat eine Abspaltung des traumatischen Erlebnisses und eine Bedeutungsverschiebung stattgefunden, also eine Metonymie. Weil Signifikant und Signifikat sich arbiträr zueinander verhalten, kann der Mund als Signifikant mit dem unbewussten Signifikat des Hundebisses besetzt werden. Levi-Strauss schreibt in Die Wirksamkeit der Symbole: „Man könnte also sagen, daß das Unterbewußtsein das individuelle Lexikon ist, in dem jeder das Vokabular seiner persönlichen Geschichte sammelt, daß aber dieses Vokabular nur insoweit Bedeutung für uns selbst und für die anderen gewinnt, als das Unbewußte es gemäß seinen Gesetzen formt und eine Rede (discours) daraus macht.“ Das Symptom im psychoanalytischen Sinne entspricht dem metaphorischen Prinzip: Der Signifikant des Symptoms steht assoziativ für einen anderen Signifikanten im Unbewussten, der vom Bewusstsein verkannt wird. Das wird in Traumstrukturen besonders deutlich, in denen Erinnerungen, Gedanken und Vorstellungen metonymisch und metaphorisch zu dem jeweiligen Trauminhalt verschmolzen werden. Das Traumsymbol ist der Signifikant eines unbewussten Komplexes (Signifikat). So wie im alltäglichen Sprachgebrauch Wörter fließend aneinandergereiht werden, um Bedeutung zu evozieren, so gleitet auch im Traum die Signifikantenkette über dem Signifikat. Die Verknüpfung von Signifikanten mit der tiefsten emotional-subjektiven Ebene ist nicht nur ein interner Prozess und auch nicht nur auf Traumata beschränkt. Wenn beispielsweise die Entweihung eines Nationalsymbols wie einer Flagge in einer Kultur mit drastischen Strafen belegt ist, so liegt das daran, dass in diesem Signifikanten (also der Flagge) ein enormes Maß an Signifikat verdichtet ist. Als Metapher des Vaterlandkomplexes mit all seinen Narrativen wird ihre symbolische Verbrennung als dementsprechender Angriff auf die eigene Lebenswelt wahrgenommen, obwohl tatsächlich nur die chemische Reaktion des Feuers auf einem Stück Stoff vonstattengeht. Trotz ihrer Arbitrarität haben Signifikanten also einen signifikanten Einfluss auf die innere Erlebniswelt. Die Fixierung auf bestimmte Signifikanten dient generell der Stabilisierung des Selbst. Darum neigen ich-schwache Menschen besonders dazu, Ideologien anheim zu fallen. Indem sich ein Vertreter einer solchen Ideologie in einer Gruppe bewegt, die die eigenen Signifikantenkomplexe ständig eindimensional rezitiert, ohne andere Perspektiven aufzuwerfen, bleibt der narzisstische Entwurf geschützt. In diesem Zusammenhang ist interessant, dass die chinesische Regierung just Wortspiele verboten hat. Da wir erkannt haben, dass Sprache kein geschlossenes System ist, muss uns das als lächerliche Absurdität erscheinen, es ist der Befehl zum Stillstand des Signifikats. Schon Wittgenstein hat betont, dass jede Sprachverwendung ein Sprachspiel ist, weil ein Wort oder Satz in der Bedeutung nie unabhängig davon sind, was man mit ihnen tut und in welcher Situation man sie äußert. Dazu noch ein Aphorismus, der Heidegger zugeschrieben wird: „Der Mensch verhält sich so, als ob er der Schöpfer und Herr der Sprache sei, es ist aber ganz im Gegenteil die Sprache, die sein Gebieter ist und bleibt.“ (Kennt jemand die Quelle?)
Der Grund, warum der Menschen dermaßen durch sprachliche Strukturen determiniert wird, liegt darin, dass die Sprache, also die extrem komplexe Verwendung von Signifikanten, ihn erst zum Menschen macht. Vorstellungen, Gefühle und primitive Äußerungen, selbst die Nutzung von Werkzeug sind auch Tieren möglich. Erst der Prozess der Spiegelung eines internen Inhalts in einem Signifikanten und die komplexe Verwendung solcher Signifikanten unterscheiden den Menschen von anderen Tieren. Ohne sprachliche Mittel könnte der Mensch beispielsweise nicht den Signifikanten Gott erzeugen, die Möglichkeit der Religion wäre also nicht gegeben (beachtenswert ist die Klassifizierung von Bibel/Koran als heilige Schrift). Mathematische Verhältnisse wären ohne Zahl- und Rechensymbole nicht veräußerbar. Der Mensch könnte auch nicht andere Menschen von seinen Zielen und Ideen überzeugen, es gibt also weder die Möglichkeit technischen Fortschritts noch aufklärenden Verstand oder Vernunft. Folglich kann der Mensch ohne Sprache auch nicht zwischen Gut und Böse unterscheiden, da diese moralischen Kategorien sprachliche konstruiert sind. Nietzsche fragt und antwortet demensprechend ganz richtig: „Was ist also Wahrheit? Ein bewegliches Heer von Metaphern, Metonymien, Anthropomorphismen, kurz eine Summe von menschlichen Relationen, die, poetisch und rhetorisch gesteigert, übertragen, geschmückt wurden“ (Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne). Mit anderen Worten: Die Notwendigkeit der Sprache, die Setzung von Subjekt und Prädikat, impliziert eine vorurteilsbehaftete Illustration. Gleichzeitig ist die Sprache anthropologisch gesehen eine Notwendigkeit a priori. Ohne Sprache gäbe es keine kulturellen Regelungen. Es gäbe immer noch das Imaginäre, aber es wäre ohne grammatische Bedeutungsstrukturen. Vermutlich gäbe es nicht mal eine moi-Konstitution, da auch eine solche einer signifikanten Zuordnung entspricht (So bin ich.) Dementsprechend sagt Lacan in Das Symbolische, das Imaginäre und das Reale ganz triftig: Das Symbol gründet (constituer) die menschliche Realität.