Zur Konstruiertheit diagnostischer Kategorien
Das DSM-V dominiert die psychopathologische Diagnostik. Gerne unberücksichtigt bleibt dabei, dass alle Diagnosen im Bereich der Psyche konstruiert sind. Es sind vom Menschen erdachte Kategorien, die heterogenen Phänomenen zugewiesen werden. So genannte psychische Störungen sind einerseits nicht derart voneinander abgrenzbar, wie es üblicherweise dargestellt und kommuniziert wird, und gestalten sich andererseits bei jedem Menschen etwas anders. Die Grenzen sind nicht nur fließend, es gibt sie überhaupt erst dadurch, dass durch Begriffe wie Borderline oder Dissoziation bestimmte Kategorien, die als hermetisch gelten sollen, evoziert werden. Diese Kategorien sind der Kommunikation wegen sinnvoll. Sie dienen dazu, Phänomene intersubjektiv zu erfassen und zu analysieren. Gleichzeitig müsste mehr berücksichtigt werden, dass sie sprachlich konstruiert sind und sich ihre individualphänomenologische Beschaffenheit empirisch nicht nachvollziehen lässt.
Das beste Beispiel ist AD(H)S. Kritiker bezeichnen das Syndrom als zur Bereicherung der Pharmaindustrie erfundene Krankheit, während andere darin einen klinischen Befund sehen. Dass eine Kategorie wie ADS eine kulturelle Konstruktion ist, heißt nicht, dass es das, worauf sie verweist, als Symptom nicht gibt. Es bedeutet vielmehr, dass es das als materiellen Fakt nicht gibt – im Unterschied zu eindeutig als pathologisch körperlichen Erkrankungen wie Arthritis. Ein Hirnstoffwechsel, der nicht der Norm entspricht, kann alleine kein Krankheitsbild darstellen. Das einem Symptombündel ein Name zugeordnet wird, ist nicht verwerflich, anders könnte man gar nicht kommunizieren. Problematisch wird es, wenn diese Namen selbst als prinzipielle Wahrheiten angenommen werden (à la man hat ADS oder nicht, 1 oder 0). Es kommt auf den individuellen Menschen an. Der wichtige Punkt ist: Die Grenzen zwischen Symptomen und persönlichen Eigenschaften sind fließend. Man könnte auch sagen, die Grenzen zwischen realem pathologischem Leidensdruck und schlichtweg außergewöhnlichen Kindern mit besonderen Eigenschaften sind fließend. Darum sind jegliche Verallgemeinerungen fehl am Platze. Wer ADS-Symptomatiken aufweist und dadurch Leidensdruck erfährt, hat verschiedene Möglichkeit der Hilfe. Wenn jemandem Methylphenidat sehr gut hilft ohne besondere Nebenwirkungen, warum sollte er es nicht nehmen? Es gibt aber andererseits auch Menschen mit entsprechenden Symptomen oder Eigenschaften, die keine medizinische Versorgung brauchen. Ein springender Punkt ist, dass eine Medikamentierung nicht einer reinen Leistungssteigerung dienen darf, sondern einer Herbeiführung einer seelischen Integrität zuarbeiten soll. Dementsprechend ist das Problem nicht, dass betroffenen Menschen solche Amphetaminvarianten angeboten werden, sondern dass ihnen nicht andere Alternativen aufgezeigt und angeboten werden. Zu solchen Alternativen können Achtsamkeitstraining, gering dosierte Cannabinoide oder 10-20 µg Lysergsäurediethylamid gehören. Insbesondere zählt dazu aber auch ein Diskurs, inwiefern ein gesellschaftlicher Kontext nicht die sogenannten Symptome, sondern den damit verbundenen Leidensdruck überhaupt erst herbeiführt. Wenn etwas nicht in eine Schablone passt, kann es auch an der Schablone liegen. Die Fälle scheinen im Fall der ADS-Diagnose sehr variantenreich. Zuviel Pauschalisierung, Kategorisierung und Konzeptualisierung führen in Ideologie. „Du hast ADS und musst darum das hier nehmen“ ist ideologisch. „ADS ist eine Erfindung pharmazeutischer Raffgier und niemand sollte jemals Methylphenidat nehmen“ aber auch.
ADS ist lediglich ein Paradebeispiel übermäßiger Kategorisierung. Die Borderline-Störung wie die Dissoziative Störung in ihren vielen Ausprägungen beruhen auf emotionalen Traumata. Die Schwarz-Weiß-Spaltung in der Borderline-Störung ist nur eine andere Ausprägung der dissoziativen Spaltung. Während in letzterer die vermeintliche Instanz des eigenen Selbst aufgespalten wird, wird in der Borderlinespaltung das Gegenüber teils mit extrem positiven und dann wieder mit ebenso extrem negativen Emotionen belegt. Letztendlich geht es aber immer um eine emotionale Radikalität im Subjekt, das diese nicht integrativ verarbeiten kann. Ob nun jemand zur Projektion nach außen neigt und sich so die Spaltung offenbart oder ob sie sich in der internen Organisation (im radikalsten Fall der Multiplen Persönlichkeitsstörung) niederschlägt, ist weniger eine Frage der Ursache als vielmehr veranlagungs- und kontextbedingte Reaktion auf die Bedingungen des emotionalen Traumas. Darum verwundert es auch nicht, wenn beide Phänomene, also extern-projektive und intern-dissoziative Spaltung, in einer Person aufzufinden sind. Es gibt Vorformen der multiplen Persönlichkeitsstörung, in denen sich keine ganzen Persönlichkeiten, aber erheblich unterschiedliche Zustände, die nicht vereinbar sind, in einer Person abwechseln. Hier ist vor allem zu beobachten: Das kleine Kind (der infantil stehengebliebene Persönlichkeitsbereich des Traumas), der Zorn (die durch Missbrauch oder Vernachlässigung bedingte geballte Wut) und die Liebesbindung (der Wunsch nach einer heilen Welt trotz des Erlebten). Diese interne Dissoziation entspricht dem, was bei Borderline projektiv geschieht. Das unsichere innere Kind belegt das Gegenüber entweder mit bedingungsloser Aufwertung zwecks Stiftung einer eigenen heilen Welt, also erwünscht bedingungslose Nähe, oder mit grundlegender Abneigung, also unüberwindbarer Distanz. Der diagnostische Diskurs möchte diesen Bereich möglichst differentiell betrachten und zwingt sich selbst damit zur Willkür. Beispielsweise müssen 5 von 9 Kriterien für die Diagnose „Borderline“ erfüllt sein. Das ist an Arbitrarität nicht zu überbieten. Eigentlich gibt es nur eine einzige Diagnose: Posttraumatische Belastungsstörung. Traumatische Erfahrungen führen zu Spaltungsprozessen in der Psyche. Das ist die prinzipielle Grundlage. Wie sich dies im Individualfall gestaltet, hängt mit der jeweiligen Persönlichkeit und den jeweiligen Umständen zusammen. Je Person und Umstand verursacht ein traumatisches Erlebnis unterschiedliche Symptome, die aber immer auf emotionaler Spaltung beruhen. Die emotionale Spaltung entsteht dadurch, dass eine negative emotionale Erfahrung intern abgelehnt wird. Viele Betroffene tragen ihre Diagnose wie eine Rolle mit sich herum. Der diagnostische Stempel wird zum Marker ihrer Identität und therapeutische Konzepte werden konsumartig abgearbeitet. Die jeweilige Diagnose wird zur Selbstdefinition. Dabei benötigen diese Menschen vorrangig lediglich, sich in einem Kontext, in dem sie ausschließen können, dass das, was sie traumatisiert hat, nicht noch einmal passiert, als Mensch frei von jeder Beurteilung entfalten zu können. So gewonnene Erfahrungen der Geborgenheit können den Spaltungsprozess besänftigen. Das ist der Kern jeder gelingenden Therapie und zu starke Intellektualisierung kann dies behindern.
Depression oder Angst- und Zwangsstörungen sind kein hiervon separater Bereich. Bestimmte Zwänge oder Ängste sind Repräsentanten negativer Erlebnisse, die sich nicht selten schon in früher Kindheit manifestiert haben. Aus der Tiefe der Verdrängung schalten sie sich verdeckt in die Persönlichkeit ein und interagieren projektiv mit der Umwelt. Der Zwang, etwas immer wieder tun zu müssen, beruht beispielsweise oft auf der infantilen Erfahrung, einer Bezugsperson nicht genügt zu haben. Die Angst vor einem bestimmten Objekt ist die substituierende metonymische Bewegung einer in der Vergangenheit liegenden Angsterfahrung anderen Inhalts. Die Gefahr- und Angsterfahrung hat sich ins Unbewusste eingeschrieben, verselbstständigt und schließlich potenziert. Mit anderen Worten: Auch Zwangs- und Angststörungen sind lediglich andere Varianten einer Posttraumatischen Belastungsstörung. Es gibt Fälle, in denen die Depression auf körperlichen Ursachen wie einer Fehlfunktion der Schilddrüse zurückzuführen ist. In den meisten Fällen beruht Depression jedoch auf einem Verlust der Verbindung zu der eigenen positiven Seinsgrundlage. Meistens war das Subjekt so lange internen oder externen negativen Bedingungen ausgesetzt, bis unter ihrer Last der autarke Selbstwert zusammengebrochen ist. Da Sein bereits per se etwas Positives ist, ist die Beurteilung des reinen Seins als etwas Negatives eine Entfremdungserscheinung. Auch Depression ist also sowohl ein Spaltungsprozess als auch eine Form von Zwangsstörung, indem sich negative Gedankenschleifen verselbstständigen. Die Folge ist eine Aggression gegen sich selbst, eine Selbstentwertung. Sämtliche Therapieformen müssen darum ebenfalls, wenn sie erfolgreich sein wollen, vorrangig ein Ziel haben: Dem Menschen ermöglichen, sich nicht nur als kleine eingeengte Separationserscheinung zu erfahren, deren negative Verurteilung gerechtfertigt wäre, sondern als von Beurteilung freier und unmittelbar verbundener Teilhaber einer Gemeinschaft bedingungsloser Wertschätzung. Anders formuliert: Warum ist es so wichtig, um die Relativität dieser Diagnosen zu wissen? Weil fast allen von solchen differentiellen Diagnosen Betroffenen mit einer kostenlosen Arznei (die freilich keine anderen Behandlungsformen ausschließt) geholfen werden kann: Geborgenheit bzw. Liebe. Das ist ein gesellschaftlicher Auftrag. Wer das für ein Klischee hält, hat entweder ein verzerrendes Verständnis von Liebe oder ist von jener übermäßigen Intellektualisierung betroffen, die hier kritisiert wird. Das Empfinden von Geborgenheit ist der Schlüssel eines gelingenden sozialen Seins.