Die Notwendigkeit der Flexibilität der Sprachanwendung

„Der Sinn erweckt den Anschein, als gehörten Signifikanten und Signifikat zusammen. Es bleibt aber ein Rest, der sich dem Sinn entzieht. Diese fehlende vollständige Zuordnung ermöglicht das Gleiten der Signifikate unter den Signifikanten, was zu der Feststellung führt, daß der Sinn nie erschöpft, nie vollkommen ist. Darum ist eine Rede, eine Schrift nie für immer abgeschlossen. Darin zeigt sich ein grundsätzlicher Mangel.“

Peter Widmer: Subversion des Begehrens: Eine Einführung in Jacques Lacans Werk, S. 47.

 

Je mehr Sprache schablonenartig verwendet wird, desto eher wird Kommunikation scheitern. Jeder Mensch erlebt die Welt auf eine subjektive einzigartige Weise. Das betrifft auch sein Sprachverständnis. Damit ist nicht die Fähigkeit der Sprachverwendung gemeint, sondern sein individuelles Konnotationsparadigma. Wenn zehn Menschen das Wort „Tisch“ hören, wird sich jeder einen Tisch vorstellen – doch in Farbe, Große und sonstiger Ausprägung wird es ein jeweils anderer Tisch sein. Wenn schon bei solch simplen Begriffen das subjektive Verständnis sich unterscheidet, wie unterschiedlich ist es dann erst bei abstrakteren Formulierungen oder sogar philosophischen Diskussionen?

Wenn wir also Sprache verwenden, müssen wir uns zuerst auf dem Sprachpartner eintunen. In welcher Verfassung ist er? Wie ist seine Stimmung? Wie groß ist sein Wortschatz?
Humor ist beispielsweise ein großartiges Mittel, um die Atmosphäre aufzulockern. Wenn der Sprachpartner aber nicht bereit ist, sein aktuelles Welterleben für einen Witz zu öffnen, wird der Humor nicht nur an ihm abprallen, womöglich könnte er sogar für zusätzliche Verstimmung sorgen. Eine noch größere Rolle spielt, wie der Sprachpartner kulturell sozialisiert ist. Die Worte müssen so gewählt werden, dass sie innerhalb seines subjektiven Bedeutungszuweisungsschemas das semantische Schema ergeben, das der Sprechende zu übermitteln versucht.

Am wichtigsten ist aber das Gesamtgefüge des augenblicklichen Momentes. Dieses ist nicht antizipierbar. Etwaige Antworten müssen aus dem Inneren des Moments aufsteigen – ungefiltert von persönlichen Prägungen, wie etwas zu sein habe. Unsere egoistische Emotionalität steht uns dabei schnell im Wege, denn die kann nicht so leicht umgangen oder aufgelöst werden, wie wir es wünschen. Bewusstheit über diesen Umstand ist aber bereits ein bedeutsamer Schritt zu dessen Transzendenz.

Sprachverwendung ist eine Kommunkation über Formen, für die es keine absolute endgültige Bedeutung gibt. Die Bedeutung der Zeichen wird von uns individuell herangetragen und ist ein Konglomerat aus unserem aktuellen Befinden, unserem Bewusstseinshorizont und unserem Wissensschatz. Wenn jemand das seinige Konglomerat verbal unflexibel anwendet, besteht trotz direkter Begegnung mit dem Gesprächspartner kein Vorteil zur Schrift. Erst durch die empathische Fähigkeit des Rezipierens der semantischen Formbedürfnisse des Partners und einer dementsprechenden Anpassung der eigenen Entäußerungen erhält das gesprochene Wort einen Vorteil gegenüber dem geschriebenen. Intonation und Akzentuierung spielen in diesem Zusammenhang ebenfalls eine große Rolle. In vielen Situationen ist es wichtiger, wie man etwas sagt, als das, was man sagt. Natürlich können wir bei bestmöglichem Bemühen transpersonaler Kommunikation nicht ausschließen, dass ein Gegenüber unsere sprachlichen Entäußerungen innerhalb seines Deutungsschemas missinterpretiert. Genau genommen passiert das dermaßen oft, dass wir ein hohes Maß an Nachsicht und Toleranz dafür aufbringen sollten. Gerade vor diesem Hintergrund wird die Notwendigkeit der Flexibilität der Sprachanwendung deutlich.

Die Kompetenz dieser sprachlichen Flexibilität ist entscheidend, wenn wir andere Menschen beraten oder ihnen zu neuen Erkenntnissen verhelfen möchten. Zwar man kann sich vorab überlegen, was man mitteilen möchte, doch die tatsächlichen Entäußerungen müssen frisch der akuten Gesprächssituationen entspringen. Jede Reaktion und jede Formulierung des Gegenübers erfordert eine sensible Anpassung an sein Konnotationsbedürfnis und gegebenenfalls sogar eine komplette Abkehr von einem etwaig vorher erdachten Kurs. Natürlich ist es sinnvoll, für Beratungssituationen spezielle Schablonen sowohl syntaktischer als auch semantischer Art parat und gewisse Navigationspunkte eines Beratungsgesprächs vorab internalisiert zu haben. Doch der zu Beratende bringt eine eigene Welt mit sich, die er vertrauensvoll über das Medium der Sprache uns öffnet. Diese Welt gilt es zu betreten und gemäß der in ihr gegebenen Bedingungen das Gespräch zu gestalten. Auch innerhalb dieser Welt gilt es sich zu orientieren, wenn wir zuhören, damit wir nicht mit den eigenen subjektiven Schablonen das Gemeinte verfremden. Das ist natürlich immer nur in Annäherung möglich, da es im Wortwechsel kein Außerhalb der Subjektivität gibt.

Diese Art der Akkommodation darf nicht mit einer simplen Spiegelung verwechselt werden. Es geht nicht darum, den Gesprächspartner zu kopieren. Ein solches Pacing kann zwar für mehr Vertrauen schaffen, ist aber nur ein Bestandteil der flexiblen Möglichkeiten, und kann bei zu intensiver Anwendung einem Aufgeben der eigenen Individualität gleichkommen. Vielmehr kann das gesamte kommunikative Vermögen zum Einsatz kommen – ob, wann und wie jedoch ist abhängig davon, wie weit wir vermögen, in das Verständnisparadigma des Gesprächspartners einzutauchen. Der Austausch von arbiträren Zeichen ist ausschließlich subjektiv – das sollten wir uns stets vor Augen führen. Nur mit einer sensiblen Intuition im jeweiligen Moment können wir unserem Gesprächspartner authentisch begegnen. Nur wenn wir die individuell-offenen Anknüpfungspunkte in seinem Universum finden, können wir ein Brücke schlagen, über die Informationen aus dem eigenen Universum übertragbar sind. Doch eines ist gewiss im sprachlich-semantischen Austausch: Nichts ist gewiss.

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