Die Verabschiedung des Denkens als Grundlage der Seinserschließung

„Ich denke, wo ich nicht bin, also bin ich, wo ich nicht denke. […]  Man muss sagen,
ich bin nicht, da wo ich das Spielzeug meines Denkens bin;
ich denke an das, was ich bin, da wo ich nicht zu denken denke.“
(Jacues Lacan, Schriften 2, S. 43)

 

Lacans gleichzeitig sinnvoll und sinnleere Umdrehung des cartesianischen „cogito ergo sum“ zeigt, wie die lacansche Psychoanalyse dem rationalistischen Erkenntnisprinzip zu entwachsen versuchte, ohne auf die Akrobatik des dualen Sprachgebrauchs zu verzichten. Lacan stellt die fatale Ausweglosigkeit des erkenntnistheoretischen Denkens pointiert heraus, indem er darlegt, dass diesem ein Nicht-Denken nur über das Nachdenken darüber zugängig sei – und damit natürlich unzugängig ist. Der Versuch des Denkens an das zu denken, was der Denker ohne Denken sei, ist der vergebliche Versuch der Form, das Formlose zu sehen.

Descartes‘  Formulierung „Ich denke, also bin ich“ läuft ins Leere, weil Sein und Denken keine Äquivalente sind. Die Verwechselung von Denken und Sein oder Denken und Bewusstsein ist ein fundamentaler Fehler unserer Zivilisation. Das Denken ist ein außerordentlicher Filter des Seins. Es ist eine Verengung unendlicher Weite zum Öhr einer Nadel. Für spezifische Stiche ist diese Nadel des Denkens gut und hilfreich. Doch ihr Gebrauch hat sich so sehr verselbstständigt, dass wir uns mit ihr das Tor zum Sein zunähen. Lacan formuliert das so: „Das Denken begründet das Sein nur dadurch, dass es sich in das Sprechen verknotet.“ (Schriften 2, S. 243)

Das Sprechen ist nur eine Vermittlung von Sprache. Sprache kennt als tautologisches Prinzip nur das, was sie als Signifikanten assimliert und kann auch nichts außerhalb von Zeichenketten kennenlernen. Nur das für das sprechende Subjekt Kategorisierbare kann der Sprache zugeführt werden. Sie ist die Zeichenstruktur des Verstandes, der ausschließlich in der Trennung zwischen Ich und Anderem zu formulieren weiß. Der Akt des formhaften Seins als freier Fluss von Formbewegung kann auf diese Trennung verzichten, sie ist vom Menschen erdacht. Es geschieht das Geschehen, es geschieht das Vergehen, es geschieht das Entstehen. Das Formspiel des Seins benötigt keine sprachlichen Filter. Sie sind ein subjektiver Spezifizierungsmechanismus, der uns von dem trennt, was wir wirklich sind: das Unspezifizierbare. Erklärungen möchte der Verstand. Im dualen Denken werden wir uns aber nicht finden.

Im Denken müssen wir uns zu einem anderen machen, zu einem Objekt. Nur indem wir uns selbst als vorgestelltes Objekt gegenübersetzen, können wir definieren, was wir seien. Doch wenn wir über uns selbst nachdenken, denken wir gar nicht über das Selbst nach, sondern über unser Konzept von uns. Wie könnten wir uns selbst in einem konzeptuellen Denken über ein Objekt finden? „Cogito ergo sum“ liegt der Trugschluss zugrunde, der Denker zu sein. Was soll dieser Denker sein – eine bestimmte Form wie das Gehirn, der Organismus oder der sichtbare Körper? Nichts davon steht still. Jede Form ist ständig in formverändernder Bewegung.  Das Formlose drückt sich in der Form aus, ist jedoch in der Form nicht fassbar. Der Denker ist eine Idee des Denkens, selbst nur ein Gedanke. Der Versuch der Selbsterkenntnis über das Denken ist der Griff des durstigen Tantalos nach jenem zauberhaften Wasser, das stets vor seinen Händen weicht. Wenn das Denken nicht in mehr Existenz führt, dann gibt es nichts aus dem „Ich denke“ zu folgern. Jedes konsekutive „also“ wäre selbst nur Akt des Denkens. Übrig bleibt von Descartes‘ Spruch nur noch das unanzweifelbare „Ich bin“.

Wir sind sowohl ein als auch das Phänomen des “Ich bin”, das mit dem Denken nicht zu erschließen ist, weil es das Denken beinhaltet. Ich bin natürlich auch, wo ich denke, aber nirgendwo mehr irre ich darüber, was ich bin. Die Erfahrung des Subjekts ist eine Vorstellung des Vorstellbaren. Das Denken ist das dem Sein Vorgestellte. Zu denken, man wäre, weil man denkt, verwechselt die Bühnenvorstellung mit der Realität. In der Realität ist der Denker nur eine Fiktion. Er kann unmöglich sein. Die Fiktion hingegen ist schmerzhaft real. Ich leide, also bin ich? Auch der Leidende ist nur ein Gedanke, die Schmerzempfindung kommt ohne ihn aus. Ich bin, also bin ich Bewusstsein. Das ist alles. Das sich selbst bewusste Sein an sich ist das Alpha und das Omega. Deshalb spricht im Alten Testament Gott zu Moses die Selbstdefinition: “Ich bin, der ich bin.” (2. Mose 3,14)

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