Allegorie und Pi: Die Narration der Welt in Ang Lees Verfilmung von Life of Pi

Yann Martels Geschichte des Schiffbruchs eines polyreligiösen Jungen steckt bereits in ihrer Buchform voller narrativer Kreuzungen und gleichnishafter Spiegelungen. Wenngleich der Film lediglich von der Buchvorlage abweicht, indem er filmisch nicht Umsetzbares ausspart, verdeutlicht er in seiner Bildkraft eine allegorische und symbolische Fülle, die in der Buchfassung von Life of Pi aufgrund der fehlenden Visualisationsmöglichkeit weniger augenfällig ist. Pi ist mehr als der Name des Protagonisten, der an die berühmte Zahl erinnert. Die Kreiszahl wird selbst immer wieder thematisiert – sie wird zum Statthalter des Ganzen, des Kreises, der lebensweltlichen Vollständigkeit. Der Name Pis leitet sich ursprünglich von piscine ab, dem Schwimmbad, einem Ort des Wassers. Das Wasser, das schier endlose Meer, wird zum Schauplatz der allegorischen Geschichte des Schiffbruchs mit dem Tiger. Selbst die Titulierung als Pisser durch seine Mitschüler wird in der Filmmitte aufgegriffen, wenn Pi sein Revier zu markieren versucht. Die narrative Spiegelung der Einbettungen dieser Begrifflichkeiten in die spätere Geschichte entspricht dem Konzept, das Martels Erzählung als Grundlage unserer Weltperspektive aufdeckt: Sie ist stets eine Narration.

Wie mit jenen Begriffen verhält es sich mit der Kreiszahl: Es bleibt nicht bei Pis ausführlichem Verweis auf die Homonymie mit der Zahl Pi an der Schultafel – sie wird immer wieder in eindrucksvollen Bildern umgesetzt. Da wäre die Szene, die den kreisförmigen Vollmond von Wolken umkreist zeigt, bis sich in umgekehrter Perspektive der Himmel im Meer, auf dem Pi treibt, spiegelt. Darauf folgend wirft Pi eine Dose mit Text, der seine Lage schildert in das ruhige, stille Wasser. Der Einschlag löst eine Kaskade sich sanft ausdehnender Kreise an jener Stelle der Berührung aus. Eine Narration (der Text zu seiner Lage) in einer Narration (Schiffbruch mit Tieren) in einer Narration (Life of Pi) wird zum Ausgangspunkt einer Ganzheit, die sich von ihrem Ausgangspunkt entfernt – der ewige Antrieb des Lebens zum Tode hin. Da wären die immer wieder fokussierten und thematisierten Augen als potenzieller Spiegel der Seele – optisch eine Kreisformation. Begreift man den Tiger als allegorisches Substitut des wahren Pis jener im Krankenhaus erzählten zweiten Version, sind die immer wieder in Großaufnahme gezeigten Tigeraugen nichts anderes als die Augen jenes Menschen, der den Namen Pi trägt. Schließlich wäre da noch der futter- und damit lebensspendende, bodenlose Teich der Inselmitte. Er hat eine Kreisform. Pi durchschwimmt ihn mittig und figuriert so den Radius 1. Der Teich wird zur Metapher einer Ganzheit der Welt, die dualistisch Tod (die ihn im aufsteigenden Fischkörper, der Säuregehalt in der Nacht) und Leben (die sich an ihm ernährenden, harmonisch-vitalen Erdmännchen) vereint.

Die Insel ist ein Gleichnis für jedes Leben. Jedes Individuum treibt inselhaft im Meer des Seins, dem steten Wechsel von Lebensgefahr und Lebenseintracht ausgesetzt, doch irgendwann muss jeder wie Pi seine Insel verlassen und sich dem Meer hingeben. Hier wird allegorisch eine Brücke zum religiösen Diskurs geschlagen, der das erste Drittel des Filmes dominiert. Pi nimmt keine bestimmte Religion an, da sie alle nur Bruchstücke einer narrativen Weltsicht sind. Aus diesen vermeintlich heterogenen Bruchstücken formt Pi ein ganzheitliches Weltverständnis, dessen Umfang das transzendent(al)e Signifikat Gott krönt. Der Glaube an Gott schließt den Kreis der unterschiedlichen Narrationen zu einer umfangreich vollständigen Narration. Er ist Schöpfer und Spender jenes sinnbildlichen dualistischen Kreisteiches, an dessen Trost spendenden Aspekt Pi während des Schiffbruches nie seinen Glauben verloren hat.

Das Verständnis jeglicher Weltperspektive als Narration, das der Protagonist entwickelt, wird am Ende umso deutlicher. Dem Schiffbruch mit dem Tiger wird eine andere Version der Geschichte mit strukturaler Äquivalenz gegenübergestellt, die realistischer, aber weitaus erschütternder klingt. Welche Version wahr ist, mutet weniger wichtig an als die Frage, welche besser gefällt und die Welt oder das Leben lebenswerter gestaltet. Für die beiden Chinesen scheint die zweite Version die praktikablere zu sein, für Pi hingegen die erstere, jene, die mehr Lebenskraft spendet. Im Unterschied zum Buch weist der Film explizit darauf hin, dass die zweite Version wahrheitsgetreuer sein muss. Abgesehen von den unglaubwürdigen Vorkommnissen im Laufe der ersten Version, die natürlich auch im Buch evident werden, weint Pi, während er die zweite Version mit gebrochener Stimme erzählt. Dazu gäbe es keinen Grund, wäre sie reine Fiktion. Die Quintessenz der Geschichte liegt also darin, dass es nicht wichtig ist, welchen Glauben man annimmt – jeder Glaube ist nur Narration -, sondern dass man Narrationen annimmt, um einen Glauben zu haben, der die eigene Lebenskraft stärkt. So vermag man trotz Zersplitterung der Welt durch Dogmen, Rationalität und existentiale Katastrophen die Welt als kohärente Ganzheit zu sehen. Was kann dies mehr verdeutlichen als das Symbol des Kreises?

Übrigens spricht es für die Geschichte, dass sie sich nie in die Kitschigkeit einer religiös-harmonischen Lobpreisungseintracht verliert. Wird der Tiger, wie es naheliegt, als Allegorie auf Pis notwendiger Abkehr von Pazifismus und Vegetarismus begriffen, erzählt ein erheblicher Teil des Schiffbruchplots von seinem Ringen mit dessen dunklen Selbst im Angesicht des Überlebenskampfes. Ab dem Punkt, an dem er aktiv (den Fisch) zu töten beginnt, verliert der Tiger den Part des reinen Antagonisten und die beiden Schiffbrüchigen nähern sich immer mehr an, bis es zu einer Symbiose kommt. Pi spricht am Ende davon, dass auf dem Meer das Böse in ihn eingekehrt wäre und ihn nie wieder verlassen habe. Die Allegorisierung dieses Bösen durch den Tiger wird besonders signifikant durch die Tatsache, dass es Pi ungemein beschäftigt, dass der Tiger sich nie von ihm verabschiedet habe. Auch das Todbringende ist Teil des Kreises des Lebens.

Martell, Yann: Schiffbruch mit Tiger. Übers. v. Manfred Allié und Gabriele Kempf-Allié. Frankfurt: S. Fischer 2003.
Life of Pi. R.: Ang Lee. USA 2012.

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