Slow West: Die Friendzone als ödipale Katastrophe

Achtung, starker Spoiler!

Der Neo-Western Slow West erzählt die Geschichte des jungen Jay Cavendish, der gen Westen reitet, um seine Liebe Rose Ross wiederzufinden. Einst wurde Jay von seinem Onkel unter ihrem Bett aufgefunden, wodurch es zu einer handfesten Auseinandersetzung mit ihrem Vater John kam. Der gut betuchte Onkel starb infolgedessen, so dass Rose mit ihrem Vater in den Westen fliehen musste. Obwohl Rose explizit gegenüber Jay formulierte, dass dieser nur wie ein Bruder für sie sei, hält er entschieden an seiner Liebe fest. Gegen Geld erhält er Unterstützung vom Kopfgeldjäger Silas Selleck, auch gegen weitere Kopfgeldjäger. Der Film erzählt die Geschichte eines unerschütterlichen Glaubens an die Gewissheit des romantisierten Verliebtseins, der zu einer bitteren Niederlage verurteilt ist. Solche vordergründigen Details entsprechen der Oberflächenstruktur der Geschichte. Paul Ricoeur unterschied eine solche Oberflächenstruktur von einer narrativen Tiefenstruktur, die sich auf die unspezifische Handlungsbewegung bezieht und prototypisch ist.

Auf der Tiefenstruktur erzählt Slow West von einer ödipalen Katastrophe. Freud definierte den Ödipuskomplex als Prozess eines Jungen, der sich in einer begehrenden Beziehung zu seiner Mutter befindet und den Vater als Konkurrenten wahrnimmt, als phallische Gesetzesinstanz, die – wie Lacan es interpretiert – die duale Verbindung als Dritter aufbricht. Um zu Reife zu gelangen, muss sich der Junge von der einseitigen mütterlichen Verhaftung lösen und den Vater nicht mehr als Kastrationsdrohung wahrnehmen, sondern als Vorbild, in dessen Rolle er schlüpft. Die biologischen Eltern von Jay bleiben im Film ausgespart. Es ist daher naheliegend, dass er zu ihnen nie eine gesunde Beziehung aufbauen konnte. Dass Jay überstürzt die Mutter von zwei Kindern erschießt und diese allein zurücklässt, mag als Spiegelung dieses Umstandes zu deuten sein. Die mangelnde Bindungserfahrung bleibt unerfüllt und wird auf Rose projiziert. Sie ist die Projektionsfläche des infantilen Geborgenheitswunsches. Die Intervention des Onkels als Vaterfigur bzw. phallische Gesetzesinstanz scheitert. Jay widersetzt sich der Vaterfigur, woraufhin diese den Tod findet. So bleibt er in einer unreflektierten ödipalen Struktur verhaftet. Als weitere potentielle Vaterfigur wird Silas eingeführt. Er schützt Jays Leben, ist aber gleichzeitig an dem auf Rose ausgesetztem Kopfgeld interessiert. Alle Versuche, als phallische Instanz Jays duales Bindungsbegehren aufzubrechen, scheitern. Obwohl er sich zunehmend zu einer adäquaten Vaterfigur entwickelt, gelingt es Jay nicht, die einseitige Mutter-Kind-Verhaftung aufzuheben. Seine infantile Blindheit führt in den Tod und Silas wird der neue Partner von Rose.

Der Westen fungiert als Symbol der verträumten Hoffnung der Rückkehr in den Mutterschoß. Der Osten hingegen steht, wie Jay selbst sagt, für „Gewalt und Leiden“. Die Überwindung der Vergangenheit ist aber keine lineare Strecke, sondern Folge eines Sich-sich-selbst-Stellens im Hier und Jetzt. Jay reitet von Gewalt und Leiden in Gewalt und Tod, weil ihm die geistige Reife eines autarken, selbstreflektierten Menschen fehlt, wahrscheinlich aufgrund der seelischen Erschütterung des Verlustes und Vater und Mutter in frühester Kindheit. Er inspiziert nicht sein Begehren, sondern folgt ihm blind und bedingungslos. Seine romantische Begierde ist nicht weniger falsch als die finanzielle Begierde der Kopfgeldjäger. Sie reiten an dem von Silas zu seinem Schutz an einem Baum Festgebundenen vorbei, nachdem er sie zu Rose geführt hat. Dabei teilen Jay und die Kopfgeldjäger ihre Blickrichtung auf Roses Haus. Auf der Tiefenstruktur sind Jay und die Kopfgeldjäger also keine Antagonisten, sondern in der Gemeinsamkeit des Begehrens vereint. Sie sind auf das gleiche Objekt fokussiert, das Begehren ist auf beiden Seiten unangebracht, lediglich das Motiv ist ein anderes. Am Ende zeigt der Film die vielen Toten, die den Weg zum uneinholbaren Objekt der Begierde gepflastert haben. Sie stehen symbolisch für Jays eigenes Leiden, das aus seinem bedingungslosen Begehren einer projektiv-idealisierten Figur hervorging. Noch bevor sein Onkel den Tod fand, hätte er erkennen müssen, dass sein Werben um Rose vergeblich ist. Aus dieser Verkennung heraus folgt das weitere Leid. Die nicht identifizierte Friendzone wird zur ödipalen Katastrophe.

Einen letzten Kniff hat der Film trotz aller Tragik parat: Nur aufgrund der kindischen Verträumtheit von Jay kann der als zynisch und abgehärtet eingeführte Silas emotionales Glück finden. Dies wird am Ende in Form des aufrecht an die Wand genagelten Hufeisens symbolisiert. Auch wenn er als Vaterfigur den Zögling nicht beschützen und erziehen konnte, war seine emotionale Öffnung ein manifester Zuverdienst. Aus einem Überlebenden ist ein Lebender geworden, aus einem Infantilen ein Toter. Während der blind Glaubende scheitert, transzendiert sich der aus Erfahrung Wissende. An der Oberfläche erzählt der Film ein übliches Abenteuer, in der Tiefe erzählt er von den inneren Prozessen (Silas) und stagnierten Mustern (Jay) seiner Protagonisten. Die körperlichen Schusswunden entsprechenden folglich der psychischen Beschädigung: Rose schießt eine Kugel exakt ins Jays Herz, während das Herz von Silas trotz mehrerer Treffer bei dem aufrichtigen Versuch, Rose und Jay zu retten, verschont bleibt.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert