Der Distelfink als Objekt klein a in Donna Tartts gleichnamigem Roman

Das unerreichbare Ziel, worauf sich ein aus einem Mangelgefühl hervorgehendes individuelles Begehren richtet, nennt Jacques Lacan „Objekt klein a“. Was Lacan als kleines anderes (im Sinne Lacans hier mit kleinem a) auffasst, ist jener Gehalt im Anderen, der als Ähnliches oder Spiegelbildliches der Imaginären Ordnung angehört. Das kleine andere ist wesentlich mit dem Ich verbunden und in einer Beziehung verfasst, die immer reflexiv und imaginär austauschbar ist. Das Objekt klein a ist dementsprechend jedes Objekt, das als begehrenswert angesehen wird und als unerreichbares Zielobjekt des nicht tilgbaren Überschusses das Begehren unstillbar in Bewegung setzt.

Indem das Objekt klein a das Reale als faktisches Präsenzobjekt, das Symbolische in Form des metonymischen Begehrens und das Imaginäre als aufzufüllendes Signifikat verbindet hat es folgende Funktion: Es ist ein willkürliches Objekt, das von Subjekt mit Bedeutung aufgeladen wird, indem es nach ihm begehrt, um einen empfundenen Mangel zu füllen. Da dieses Begehren im Imaginären begründet ist, ist es real nicht zu befriedigen. Das Objekt klein a kann dementsprechend faktisch ohne jegliche Bedeutung und trotzdem konstitutiv für den Diskurs des Subjekts sein. Im Zentrum des aus einem Mangel heraus begehrenden Subjekts befindet sich in dieser Hinsicht nicht das Ich, sondern das Begehren des mangelnden Objekts klein a.

Dieser Umstand ist in Donna Tards Distelfink ausführlich dargestellt. Durch ein traumatisches Ereignis gerät die bereits zerrüttete Lebenssituation des Ich-Erzählers komplett aus den Fugen. Seine Mutter stirbt bei einem Terroranschlag in einem Museum, aus dem er in einem verwirrten Zustand das Gemälde „Der Distelfink“ von Carel Fabritius entwendet. Der Verlust der mütterlichen Geborgenheit wird unmittelbar mit dem Mangel-Empfinden verknüpft, das ein materieller Gegenstand ausfüllen soll. Ab seinem dreizehnten Lebensjahr treibt es Theo in verschiedene Unterkünfte und Beziehungen. Auch die Beziehung zu seinem Vater als Repräsentant der symbolischen Ordnung ist schwer gestört, während die Beziehung zum Bild imaginär stabil und stabilisierend erscheint. Sein vermeintlicher Anker bleibt das von ihm stets in Geheimhaltung besessene Kunstwerk. Trotz aller Probleme bezüglich seiner Lebenssituation gelten ihm seine Sorgen und intimen Gedanken. Es wird imaginär aufgeladen mit Profundität, Lebenssinn und der tröstenden Relevanz des Seins. Doch der Schein trügt. Irgendwann muss er erfahren, dass er über viele Jahre eine Fälschung als das Original geglaubt hat. All die Jahre hat er mental ein Objekt umsorgt, das außerhalb seiner Vorstellung die von ihm angenommene Konstitution nicht aufwies. Die imaginäre Sphäre der Selbstvergewisserung wird aufgerissen von den Bedingungen des Realen. Allerdings soll es ihm ermöglicht werden, das Original zurückzuerlangen. Und so stürzt sich Theo in ein waghalsiges Abenteuer mit dubiosen Gestalten in einem kriminellen Milieu. Die gutbürgerliche Existenz vermag keinen Halt zu gewährleisten, Hoffnung verspricht der Besitz des Distelfinks als Objekt klein a. Um es zurückzugewinnen treibt es den Ich-Erzähler unverhofft in Situationen körperlicher Gewalt. Er muss um sein eigenes Leben bangen und tötet aus Notwendigkeit der Verteidigung sogar einen anderen Menschen. Unkontrolliert treibt er in einem Strudel der Sehnsucht und ergibt sich der lebensgefährlichen Jagd nach einem Bild, das für ein erfülltes Überleben eigentlich ohne Bedeutung ist. Kaum kommt er ihm tatsächlich kurz nah, ist es auch schon wieder unerreichbar entwendet und verschwunden. Schlussendlich landet er isoliert in einem Hotelzimmer und gibt sich seelenlos dem Heroinrausch hin, bis ihm ein Selbstmord als einziger Ausweg erscheint. Das Objekt, das er als Spiegelbild der Selbsterfüllung interpretiert hat, ist nun weiter von ihm entfernt als je zuvor. Die Jagd nach dem Objekt klein a hat das subjektive Mangelerleben nicht nur nicht verringert, sie hat es bis ins Äußerste zugespitzt. Das Begehren aus einem Mangel heraus ist zu jener Selbstzerstörung geworden, die durch den traumatisierenden Tod der Mutter initiiert wurde. Der Roman bietet für den Protagonisten letztendlich einen Ausweg aus dem Dilemma, leistet bis dahin aber ein hervorragendes prototypisches Beispiel für die Radikalität, mit der Menschen ein Objekt klein a verfolgen, wenn ihre imaginäre Ordnung des Selbstverständnisses in frühen Jahren eine traumatische Erschütterung erfährt. Es wird ein Triebwerk unstillbaren Begehrens in Gang gesetzt, das viel Leid schafft, letztendlich aber keinerlei faktische Notwendigkeit aufweist.

Donna Tartt: Der Distelfink. Goldmann 2011.

3 Antworten

  1. Annchen sagt:

    Sehr interessant! The Goldfinch ist eines meiner Topten-Lieblingsbücher – so wie hier beschrieben hatte ich es noch nicht gesehen. Off-topic: Mich haben die letzten Seiten, in denen es um das Bild und das auf ihm Dargestellte geht zu Tränen gerührt.

  2. Annchen sagt:

    PS: Tartt, übrigens. 😃

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