Warum weder Non-Dualität noch klassische Gesprächstherapie ein Entwicklungstrauma heilen können

Non-Dualität ist ein Begriff für das EINE. Du als die eine Absolutheit des Selbst. Vollkommenheit, in der alles darf. Entwicklungstrauma ist ein Bindungstrauma. Es ist das Ergebnis eines missglückten Verbindungs(v)ersuches einer Individualisierungsdissoziation des Einen mit einer Bezugsperson. Wer in Samadhi ist, hat dieses Problem nicht, aber wer ist das schon permanent? Zur Heilung eines Bindungstrauma ist daher ein Zweiter oder Anderer als Bezugsperson vonnöten. Entwicklungstrauma ist der Zustand eines Säugetiers, das sich in der Welt nicht sicher fühlen kann. Um das Sicherfühlen zu lernen, benötigt es mindestens ein weiteres Säugetier, mit dem es lernen kann, sich bedingungslos sicher zu fühlen.

Von Entwicklungstrauma betroffen sind nicht nur diejenigen, die schwere Misshandlungen bis Vergewaltigungen durch ihre frühesten Bezugspersonen erfahren haben. Von Entwicklungstrauma betroffen ist jeder, der als Baby schreiend in einem Raum alleine gelassen wurde. Jeder, der depressive oder anderweitig dysregulierte – also traumatisierte – Elternteile hatte, die nicht einen konstanten liebevollen Kontakt aufrechterhalten konnten. Jeder, der schon vorgeburtlich chronisch Streit zwischen den Eltern empfinden musste. Jeder, der nicht in seinen ersten Lebensfahren mit einem Gefühl absoluter Willkommenheit und bejahender Liebe in diese Welt wachsen konnte. Mit anderen Worten: Das Phänomen des Entwicklungstrauma hat epidemische Ausmaße. Nach all den Kriegen in der Historie dieses Planeten ist das nicht verwunderlich. Aber – ist es nicht an der Zeit, das hinter uns zu lassen? Ist es nicht an der Zeit, wirklich heile – GANZ – zu werden?

Unsere Gesellschaft steht erst am Anfang, sich dem zu stellen. Die meisten gängigen Psychotherapien konzentrieren sich auf Symptombewältigung. Genesungsorientierte Traumatherapien wie Somatic Experiencing oder NARM werden in der Regel nur von Heilpraktikern für Psychotherapie angeboten und die wenigsten kassenärztlichen Psychotherapeuten haben eine entsprechende Weiterbildung, obwohl diese Traumatherapiemethoden auf der Basis von Stephen Porges Polyvagaltheorie nachweislich den Weg zur Heilung eröffnen. Fast alle chronischen sogenannten psychischen Störungen wie wiederkehrende Depression, Angststörung, Zwangsstörung oder Persönlichkeitsstörung beruhen auf einem Entwicklungstrauma. Der Mainstream der Psychotherapie der letzten Jahrzehnte hat indessen kaum jemand in echte Heilung überführt. Die Polyvagaltheorie als in die Praxis überführbares Modell eines essentiellen Verständnisses des Nervensystems und der neurologischen Basisstruktur von Trauma ist bis heute nicht in der kassenärztlichen Praxis angekommen, selbst frischgebackenen Psychotherapeuten oder Psychiatern ist sie derzeit in der Regel nicht bekannt.

Wenn wir dem Phänomen Entwicklungstrauma progressiv begegnen wollen, müssen wir es also in die eigenen Hände nehmen. Jedes Mal, wenn wir Kontakt mit einem Menschen haben, können wir uns fragen, wie sehr wir gerade wirklich in ECHTEM Kontakt sind. Inwieweit laufen in dem Moment nur mentale Programm ab, die uns davon abhalten, dem anderen in seiner Essenz wirklich zu begegnen. Wie sehr sind wir daran interessiert, was der andere in seiner subjektiven Existentialiät fühlt, empfindet, spürt? Wie sehr können wir die Begegnung ungeprägt lassen von Konditionen der Vergangenheit und Erwartungen einer Zukunft. Schaffen wir es, unsere Vor-Stellungen sich nicht vor den anderen in seiner Essenz stellen zu lassen? Wie sehr können wir sehen, dass unser Nervensystem sich nicht sicher fühlen mag, weil es nicht unterscheiden kann zwischen längst vergangenem Zuständen aus der Kindheit und dem erwachsenen Hier-und-Jetzt, und wir aber dennoch eine gefühlmäßige Offenheit zum Gegenüber wagen? Jedes Mal, wenn wir es wagen, ungeachtet sämtlicher mentalen Programme einem anderen Menschen mit offenem Herzen zu begegnen, ihm wirklich zuzuhören vermögen – und unsere tiefsten Empfindungen und Gefühle mitzuteilen, heilen wir ein Stück Entwicklungstrauma. Genesung von Entwicklungstrauma bedeutet ehrliche Begegnung mit anderen Menschen von Herz zu Herz, Essenz zu Essenz, Wahrheit zu Wahrheit. Entwicklungstrauma ist nicht etwas, das in der absoluten Liebe der Non-Dualität aufgelöst werden kann. Die unmittelbare Begegnung eines Menschen mit einem weiteren Menschen ist es, wo der infantile Schock der Separation, der so lange im Nervensystem saß, sukzessiv verarbeitet, integriert und in fließende Lebensenergie überführt werden kann. Das Seinlassen sämtlicher mentaler Kriegsmaschinerie, mit der wir identifiziert sind als unsere Meinungen, Gedanken, Konzepte, Schlussfolgerungen, Empörungen, Deutungen und Gewissheiten – ein absolutes Seinlassen dessen und ein davon unabhängiges Begegnen mit weiteren Menschen als jenes völlig gefahrenloses Gegenüber, das nach Wegfall aller Projektion noch übrig ist, das ist, was Entwicklungstrauma heilt – ergänzt durch Somatic Experiencing.

Die non-duale Einsicht zeigt, dass wir immer sicher sind, dass alles gut ist und das es sowas wie Ent-Bindung im Sinne von Trennung nicht wirklich gibt, denn die Absolutheit des Einen kann nicht wirklich entzweit werden. Im Entwicklungstrauma ist dieses Urvertrauen im Individuum verloren gegangen, nicht weil wir als Individuum in die Separation geboren wurden, sondern weil die Verbindung mit einem weiteren Individuum nicht als sicher und geborgen erfahren wurde. Alles, worum es also geht, ist uns gegenseitig Erfahrungen absoluter Sicherheit und Geborgenheit zu bieten, zu ermöglichen und zu schenken. Gibt es denn eigentlich einen Grund, das nicht ständig, überall und jederzeit zu tun? Heilung von Entwicklungstrauma braucht Zeit. So wie ein scheues Tier langsam Vertrauen schöpfen muss, dass vom Futtergeber keine Gefahr ausgeht, so müssen auch unsere Nervensysteme lernen, dass von anderen Menschen keine Gefahr ausgeht. Die Wahrheit ist: Von keinem Menschen geht für keinen Menschen eine Gefahr aus, sobald sich diese Menschen WIRKLICH BEGEGNEN. Ungeachtet jeglicher mentalen Programme sehnen wir uns als Säugetiere alle nach dem gleichen: Purer Geborgenheit im wärmend-vitalen Miteinander.

Wenn du Interesse an mehr menschlicher Anbindung und ehrlichem Mitteilen hast, kannst du eine lokale Gruppe in deiner Nähe suchen – oder noch besser: selber gründen. 🙂

2 Antworten

  1. Michael sagt:

    Danke Marcel, wieder ein Top-Artikel ! 🙂
    Auch Norbert sagt dass es eben zwei verschiedene Dinge sind: Nondualität sagt dass es keine Wahl gibt sondern eben Bindung, Traumaheilung usw. passiert – oder eben nicht. Sein Buch kam heute als Geschenk bei mir an, und wird jetzt parallel gelesen..
    ND sagt dass es Individuen schon immer nicht wirklich gab,nicht nur im absoluten Sinne, ob Samadi oder nicht.
    Damit wird sich hier momentan viel beschäftigt. “Zufälle” gibt’s.. 😉
    Liebe Grüße aus Wuppertal

  2. Michael sagt:

    Beispiele aus dem Natur- und Tierreich sind hier wirklich oft sehr hilfreich. Eckhard Tolle beobachtete mal Revier- oder Futter- Konflike bei Enten, die dann später ein paar Sekunden laut schnatternd mit den Flügeln schlagen, und dann ganz ruhig, wie zuvor in verschiedene Richtungen weiter schwimmen.

    Schwarm- und Herdentiere sind natürlicherweise, biologisch bedingt auf einander angewiesen – auch um sich sicher fühlen zu können vor Raubtieren usw.
    Vielleicht geht es uns ähnlich ?
    Wobei auch Einzelgänger im Tierreich existieren bei manchen Arten, die sich wohl selbst regulieren.

    Es gibt auch Wald- und vor allem Haustiere die scheinbar „traumatische Züge“ haben, wie sich z.B. in ängstlichen Reaktionen auf laute Geräusche zeigt wenn mal ein Verwandter erschossen wurde u.ä.
    Wildtiere sind oft ängstlich-zurückhaltend was Menschen angeht auch wenn es keine Jäger sind, also eigentlich keine direkte Bedrohung von uns/ ihnen ausgeht, was ich schade finde, da es auch Gebiete gibt in denen es anders ist.

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