Die Kunst des Weinens: Das heilsame Potential von Authentizität

Die Kunst des Weinens

Das Phänomen des Weinens und unsere Emotionalität sind eng verknüpft: Laut einer Studie beeinträchtigt Weinen die Konzentrationsfähigkeit eines Erwachsenen mehr als Maschinengeräusche gleicher Lautstärke. Weinen ist nicht ein besser zu unterdrückender überflüssiger Appendix ungereifter Kindlichkeit, sondern essentiell für emotionalen Tiefgang eines voll entwickelten Subjekts und damit verbundene Selbstakzeptanz. Wir alle kennen neben Tränen des Leids auch Tränen der Freude oder Tränen der Gerührtheit. Weinen ist also nicht gleich Weinen. Wenn wir aus Freude oder Gerührtheit weinen, geschieht dies in der Regel ohne Mitwirkung des Verstandes. Weinen wir aus Leid, schaltet sich der Verstand jedoch gerne ein und bewertet sowohl den Akt als auch den Grund des Weinens. Da wir oft mit der Vorstellung sozialisiert wurden, Weinen mit Schwäche zu verbinden, zensieren wir im Akt des Weinens schnell uns selbst. Dabei ist die Aufrichtigkeit des Akts des Weinens ausschlaggebend für seine Effektivität.

Weinen kann sehr heilsam sein. Damit Weinen sein Heilungspotential entfalten kann, darf die damit verbundene Energie allerdings nicht gehemmt werden. Menschen glauben oft, andere zu trösten, indem sie „Du brauchst nicht weinen“ oder ähnliches formulieren. Das Weinen wird dann zu einem zurückhaltenden Schluchzen. Hier liegt der Trugschluss zu Grunde, dass das Weinen das Problem sei. Stattdessen ist es eine Form der Lösung. Mental-emotionaler Kontrolldrang erzeugt energetische Blockaden im Körper. Wenn Weinen ehrlich geschieht, drückt es den inneren Zustand nach Außen aus. Ein Teil der unangenehmen Emotion kann nach Außen abfließen, anstatt sich als Energiebündel im Körper aufzustauen und für dauerhaften Druck zu sorgen. Dafür benötigt der Körper lediglich, dass wir es geschehen lassen, wie es geschieht. Insbesondere Tonhöhe und Timbre sollten klingen, wie der Körper sie von selbst ausdrückt. Aus Scham die Lautstärke zu unterdrücken, hemmt die therapeutische Effizienz des Weinens erheblich. Das gleiche gilt für ein intendiertes Anheben der Lautstärke, beispielsweise um die Opferrolle möglichst theatralisch darzustellen. In beiden Fällen greift der Verstand in den natürlichen Energiefluss ein. Weinen ist nicht dazu da, dem Weinenden eine Rolle anzudichten, z. B. die Rolle der traurigen, unerfüllten oder verdammten Person. Es ist eine unpersönliche Ausdrucksformation zur Abführung einer überschüssigen Energieintensität. Wenn dem Ereignis des Weinens eine Person und damit eine Geschichte zugedacht werden, wird die damit verbundene Energie durch Gedanken zensiert. In den eigentlichen Fluss werden allerlei Dämme und Stämme persönlicher Narration eingeflochten. Schlimmstenfalls wird Weinen zu einer affektierten Show.

Wenn wir aufgrund eines akuten Ereignisses weinen, sollten wir dies mit Bereitwilligkeit und Liebe für das Phänomen des Weinens tun. Wir sollten ganz beim Weinen bleiben. Es könnten Gedanken auftauchen wie: „Das Weinen ist in 5 Minuten sicher vorbei.“ Dann wären wir bereits mit dem Verstand in einer konstruierten Zukunft verhaftet und nicht mehr ganz beim Weinen. Beim Weinen zu bleiben bedeutet, sich dem Weinen zu ergeben. Sich dem Weinen zu ergeben bedeutet, sowohl dem Akt keine Gedanken zu widmen als auch ihn nicht forcierend zu verstärken. Es ist entsprechend ratsam, das Weinen nicht als Objekt oder Produkt eigenen Wirkens zu sehen, sondern als eine Gnade, die uns zuteil wird, um keine Gefühle aufstauen zu müssen und unser Energiesystem ausgewogen zu halten.

Nicht anders verhält es sich bei wiederkehrendem Weinen ohne akuten Auslöser. In diesem Fall sind bereits viele Gefühle aufgestaut worden. Meistens gibt es einen kleinen Trigger, der ein solches Weinen auslöst. Der Trigger selbst wäre niemals Grund zu weinen, aber er stößt die aufgestaute Gefühlsenergie an. Auch in diesem Fall sollten wir dankbar sein, dass wir noch nicht zu sehr erstarrt sind und ein Reinigungsprozess unseres Energiesystems möglich ist. Wir sollten einerseits den Akt des Weinens zulassen, anderseits kein weiteres narratives Drama dazu erzeugen. So kann das vorhandene Feuer abbrennen, ohne dass neues Brenngut in die Glut geworfen wird. Es ist auch möglich, dass der Akt des Weinens zu einer tief konditionierten Angewohnheit geworden ist. Auch dann ist es nicht sinnvoll ihn zu unterdrücken – allerdings sollte er bei aller Möglichkeit durch ein anderes Programm ersetzt und unser Verhalten willentlich umkonditioniert werden.

In den meisten Fällen ist Weinen aber mit dem Abfluss intensiver Gefühle verbunden. Damit der Abflussprozess der aufgestauten Gefühle optimal von statten geht, gibt es meist eine akustische Komponente. Unserer Stimme ist sehr effizient darin, fernab von Sprache Gefühle auszudrücken. Wir jaulen, ächzen oder stöhnen. Solange die Sprache außen vorgelassen wird, wird auch der zensierende Verstand außen vorgelassen. Im Falle eines gesunden Weinens wird die Stimme nicht als Zeicheninstrument verwendet, sondern als Energiekanal.

Bei einem optimalen Jaulen wird ein bestimmter Ton vom Körper automatisch so lange gehalten, bis eine damit verbundene Energie gelockert ist. Hierfür eignet es sich natürlich, akustischen Freiraum zu haben. Wenn bereits im Nebenzimmer andere Leute sind, wird man kaum einem authentischen Jaulen freien Lauf lassen. Ein authentisches Jaulen kann nicht gesteuert oder intendiert ausgelöst werden. Ein intendiertes Jaulen klingt anders als ein authentisches Jaulen, das von selbst geschieht und schlichtweg zugelassen werden muss. Der Tonsitz ist ein anderer und kann nicht so einfach imitiert werden, da der Jaultonbereich höher als die Tonlage der Sprechstimme ist, über die die Nachahmung geschieht.

Die folgende Metapher veranschaulicht die Funktionalität authentischen Jaulens: Manche Leute singen schief, wenn sie singen wollen oder müssen. Wenn sie wiederum gedankenverloren aus freiem Herzen ein Lied mitsingen oder ansummen, können sie plötzlich die Töne treffen, weil eine intelligentere Energie als der Ego-Verstand am Werk ist. Ebenso verhält es sich mit der Heilsamkeit des Jaulens. Ein authentischer Jauler mag 20-30 Sekunden dauern. Bereits danach merkt man, dass sich in dem Energiehaushalt etwas verändert hat. Es ist eine gewisse unbestimmte Erleichterung eingetreten. Die Änderung ist so klein, dass man meinen könnte, es wären noch hunderte Jauler vonnöten, damit ein größerer Brocken vom Herzen fällt. Nichtsdestotrotz ist die Änderung im Energiehaushalt nach 30 Sekunden authentischem Jaulen konkret spürbar. Wir haben keine Kontrolle darüber, wann wir wie viel Erleichterung erfahren. Aber wir haben Einfluss darauf, ob wir unsere Gefühle zensieren oder authentischen Ausdruck erlauben.

Auch die kürzeren Laute wie Ächzen oder Stöhnen fallen in dieses Prinzip, solange sie der Körper von selbst ausführt. Wird ein Ächzen intentional vom Verstand ausgeführt, um beispielsweise Mitleid zu erregen, bringt der Vorgang keine energetische Reinigung mit sich. Eher ist das Gegenteil der Fall – es entsteht infolge von Manipulation und Unehrlichkeit energetische Disharmonie. Ein ehrliches, unpersönliches Ächzen hingegen kann ein befreiender Akt sein. Sämtliche möglichen Laute können eine heilsame Energieabführung mit sich bringen, wenn sie frei aus dem Innenraum kommen und ohne zensierende oder kategorisierende Gedanken zugelassen werden. Ehrliche Leidensbekundungen wie Weinen, Jaulen, Ächzen oder Stöhnen sollten also erlaubt werden, wie und wo sie von selbst geschehen – egal unter welchen Umständen. Das ist alles.

Eine Antwort

  1. Michael sagt:

    Gut erklärt ! 🙂

    Gegenüber meiner Wohnung ist direkt ein Kindergarten, wo auch nicht immer nur fröhlich gespielt wird.
    Diese Geräusche, die offiziell kein Lärm sind, sind für mich wirklich ablenkender als z.B. Rasemmähen oder Dergleichen !

    In der Kindererziehung sieht man genau diese beiden Tendenzen sehr oft; entweder wird das weinen „runtergespielt“ im Sinne von „Es ist doch alles gut, kein Grund zum weinen“ (selbst wenn das Kind möglicherweise sogar körperliche Verletzungen hat, die nicht sofort gesehen wurden!)
    „Indianer weinen nicht“ usw. vor allen in früheren Zeiten bei Jungen – wobei dieser Spruch wahrscheinlich nur ein Mythos ist, erinnern sich viele daran sowas in der Art mal gehört zu haben.

    Andersherum genau so; dann wird weinen regelrecht belohnt und geputscht – mit Aufmerksamkeit und Geschenken wie einer Portion Eis. ..

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